Aktien Blog 2022 Ansichten eines Aktienanlegers
Ein Trecker-Anhänger steht vor Heurollen: Die Ernte ist eingebracht.

Lage & Szenarien vom 26.2.2023

Der Prozess und die Ernte

Von Frank Sauerland

Der Bauer hat einen Prozess. Er sät, er düngt, er erntet. Er rechnet mit Regen und mit Sonnenschein. Er hat Erfahrung und er hat Fertigkeiten. Trecker und Anhänger nutzt er als Helfer, er rollt das Stroh und schichtet die Rollen. Das Ergebnis des Prozesses, der über Jahrhunderte optimiert wurde, wird in den meisten Fällen eine gute Ernte sein.

Das Ergebnis kann auch eine Missernte sein. Dennoch ist der Prozess an sich korrekt. In der Mehrzahl der Jahre bringt er schließlich gute Ernten.

Bei dem Kartenspiel 17+4 gewinnt, wer möglichst nahe an 21 Punkte herankommt, aber nicht darüber gerät, denn hat er mehr als 21 Punkte auf der Hand, dann hat er das Spiel verloren. Am Casinotisch schaue ich einem Spieler über die Schulter, er hält zwei Karten in der Hand, Dame und Sieben, er hat 17 Punkte … und er verlangt eine dritte Karte. Prompt erhält er eine Vier und gewinnt das Spiel mit der höchstmöglichen Punktzahl von 21. — Dennoch hat er schlecht gespielt, sein Prozess war miserabel, denn es war unwahrscheinlich, eine Vier zu bekommen, wahrscheinlicher waren höhere Werte, wahrscheinlicher war damit, dass er verliert, er hätte die dritte Karte nicht nehmen sollen.

Er war kühn und ein Gewinner und dumm.

Der Satz klingt schief, etwas scheint nicht zu passen, weil im Kopf irgendwann in den vergangenen Jahrtausenden verankert worden ist, dass Kühnheit und Gewinn zusammengehören. Die abwertende Kategorie der Dummheit steht in dem Zusammenhang quer. Als passender dritter Begriff drängt sich „bewundernswert” auf: ein kühner, bewundernswerter Gewinner. Das ist der Wortstoff, aus dem gute Geschichten gewoben werden.

Doch bei der Geldanlage und besonders im Aktienmarkt, bringt über die Zeit der Prozess und nicht die Kühnheit den Gewinn.

An der Börse ist der Kühne häufig hinterher der Dumme; besonders dann, wenn seine dumme Kühnheit ihm zuvor große Gewinne einbrachte. Dann glaubt er, er hätte einen tollen Prozess entwickelt. Dabei hat er nur zu viel Selbstbewusstsein entwickelt: in sich und seine Fähigkeiten.

Für Normalo-Menschen wie mich, die am Aktienmarkt als Amateure unterwegs sind, gibt es noch einen dritten, recht unbekannten Prozess-Aspekt. Tröstlich ist er, birgt womöglich zugleich tiefgründige Gedanken zum Thema und zeigt - für Anleger, die am Praktischen interessiert sind - den Eingang zum Pfad zu den großen Gewinnen, der uns Anlegern doch so vermaledeit versteckt zu sein scheint unter wucherndem Informationsblattwerk.

Howard Marks ist eine Investorenlegende. Öffentlich gab er die Anekdote zum Besten von einem Investor, den er lange unterschätzt, geradezu übersehen hatte, da dieser Investor niemals in der oberen Hälfte der Performance-Hitliste von Investoren auftauchte, die Marks beobachtete, um von ihnen zu lernen. Dieser Durchschnittsinvestor blieb unter dem Radar, er war eben nur Durchschnitt. Über eine Periode von 14 Jahren aber, so entdeckte Marks spät, gehörte der Durchschnittsanleger zu den besten 4 Prozent, wenn Marks den Mann mit den Kandidaten seiner Hitliste verglich. — Man muss nicht zu den Besten gehören. Es reicht, Durchschnitt zu erzielen und dabei zu bleiben, indem Risiken vermieden werden, die kurzfristige Großerfolge versprechen.

Es kommt noch besser, der Prozess, welcher den eigenen Anlageentscheidungen vorausgeht, darf sogar suboptimal sein, solange er offensichtlich zumindest mäßige Erfolge liefert und lange durchgehalten wird. Geldanlagenachdenker Morgan Housel berichtet von Edgerton Welch, einem 72-jährigen Anleger, von dem nie jemand gehört hatte, der aber beim Magazin Pension and Investment Age vor einigen Jahren plötzlich in der Liste der Anleger mit der besten Performance der vergangenen 10 Jahre auftauchte.

Redakteure der US-Zeitschrift Forbes luden den Mann daraufhin ein. Sie wollten Welch sein Erfolgsgeheimnis entlocken. Oft kommt bei solchen Nachforschungen als Ergebnis heraus: Es existiert kein Geheimnis, der Erfolg ist die Frucht harter Arbeit ...

Bei Erfolgsinvestor Welch war das anders, verrückter. Der Mann verfolgte einen strikten Prozess bei der Aktienanlage. Er nahm die Anlagezeitschrift ValueLine, dort wurden Aktien nach Kriterien in einer Liste sortiert; die gemäß der Kriterien „billigsten” Aktien standen oben in der Liste. Welch kaufte grundsätzlich nur Aktien, die den Platz 1 erreichten und zugleich von Merrill Lynch oder E.F. Hutton gemocht wurden. Wenn die Aktienunternehmen bei Lynch oder Hutton in Ungnade fielen, dann verkaufte Welch die Papiere wieder.

Schräg. Erfolgreich. Damals zumindest und der heute noch aktuelle Wert der Schnurre liegt in der Erkenntnis, dass das Erfolgsrezept für die eigene Anlage im Entscheidungsprozess liegt. Dieser darf sogar - was tröstlich ist - suboptimal sein, solange er sich als einigermaßen erfolgreich herausgestellt hat. Wird er durchgehalten, dann sind selbst mit einem durchschnittlichen Entscheidungsprozess große Gewinne möglich, Konsistenz schlägt Intelligenz.

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