
Lage & Szenarien vom 11.12.2022
Der Deutschland-Check
Von Frank Sauerland
Im eigenen Land sehe ich Entwicklungen genau. Zumindest glaube ich das. Vor allem Fehlentwicklungen springen mir ins Auge.
Ich kann das Phänomen als optischen Mechanismus auffassen. Was der Linse nahe ist, wird groß abgebildet. Was ihr fern ist, kommt nur klein auf das Bild.
Ich kann den Mechanismus auch zum psychologischen Effekt erklären. Ich überbewerte Fehler, welche ich gut erkenne, während ich Fehler unterbewerte, die ebenso vorhanden sind, aber in der Ferne (z.B. USA) liegen, deswegen von mir weniger bemerkt werden.
An der Börse habe ich ein Instrument, mit welchem ich versuchen kann, Unzulänglichkeiten von optischen oder psychologischen Mechanismen auszugleichen. Das Instrument ist der Kurs. Heimische und internationale Investoren handeln an der Börse aus, wie sie die Aussichten einzelner Aktienunternehmen einschätzen. Solche Einschätzungen zu einzelnen Aktien bündeln Indices zu Sektoren- oder Länderkörben, welche mir ermöglichen, einen schnellen Überblick zu bekommen.
Für die selbstständige Einschätzung einer Aktie oder eines Index’ kann es kaum eine bessere Voraussetzung geben, als dem Objekt des Interesses gegenüber kritisch eingestellt zu sein, seine Fehler übergroß zu sehen — und dann Einstellung und Fehlerbetonung auf stumm zu schalten, um so objektiv wie möglich nur die Kurse anzuschauen, um anschließend in einer Gesamtschau Schlussfolgerungen zu ziehen. Genau das werde ich versuchen, nicht als längliche Abhandlung, sondern in sonntagmorgentauglicher Knappheit und oben ist dazu der entsprechende Chart abgebildet.
Es ist der DAX. In ihm sind die 40 führenden deutschen Aktienwerte versammelt. Seine aktuelle Zusammensetzung notiert die Wikipedia.
Jede Aktie wird jeden Handelstag von Investoren bewertet, jeden Tag handeln sie den Kurswert aus und die gesammelten Kurswerte ergeben den Index. Das ist ein täglicher Deutschland-Check aus internationaler Sicht, da die Mehrzahl der DAX-Investoren in Übersee sitzt.
Der DAX ist ein Performance-Index. Die Dividenden werden in den Indexkurs immer wieder eingerechnet. Auf Jahressicht, welche ich oben betrachte, dürfte der Effekt gering sein. Der Chart beginnt links mit dem Januar 2022, endet rechts mit dem letzten aktuellen Handelstag, dem freitäglichen 9.12.2022. Jedes Stäbchen steht für einen Handelstag. Auffällig ist die rote, durchgezogene Querlinie.
Es wirkt, als habe der DAX das gesamte bisherige Handelsjahr auf das Erreichen diese Linie hingearbeitet. — Was natürlich eine unzulässige Vermenschlichung des Index’ wäre. Der Index hat keinen Willen, er bildet nur ab: die Erwartungen der Einzelaktieninvestoren in die Zukunft der nächsten Monate. Dennoch - und gerade deswegen - ist das Treffen von DAX und Querlinie aufschlussreich.
Auf der linken Seite des Charts habe ich das Volumenprofil in Balkenform eingeblendet. Hier wird notiert, wie viele Aktien im bisherigen Jahresverlauf auf dem jeweiligen Kursniveau gehandelt wurden. Die Zweifarbigkeit der Einzelbalken lasse ich unbeachtet. Das Volumenprofil ermöglicht es mir, einen Schlüssellochblick auf die Psychologie der Anlegermasse zu versuchen.
Das Jahr begann mit einem Dreitages-Fake, einem finalen Anstieg, um die Anleger am vierten Tag maximal auf dem falschen Fuß zu erwischen. Seit dem Tag ging es bergab und zwar richtig. Bis Anfang März erlitten DAXianer 22 Prozent Verlust, wenn sie nicht vorher die Rutschparty verlassen hatten. Nun folgte das teure Stück „Fake”, zweiter Teil: Im März stieg der DAX und zwar auf eine Art, wie die Anleger es aus der Coronazeit exakt ein Jahr zuvor kannten, V-förmig, es blieb kaum Zeit zum Atem holen. Alles schien wie damals, eine Wiederholung des Lustspiels „Einsteigen und mit nach oben reisen”. Es kam anders, es wurde ein Drama gegeben, es ging hin und her nach dem April-Hoch, im Juni wurde es fast noch mal erreicht, über den Sommer rutschten die Kurse. Tückische Zwischenhochs ließen Hoffnung aufkeimen, man blieb dabei … um immer tiefer mitzurutschen und sich im Oktober im Tal der Tränen wiederzufinden und aufzugeben.
Es folgte der schnelle, steile Aufstieg. Nur die Hoffnungslosen, die Abgezockten und die Spieler waren nun noch dabei ... Der Aufstieg ging bis fast auf die Hochs von März und Juni. Das erklärt die rote Querlinie, welche das Niveau des stärksten Volumenprofilbalkens markiert. Auf diesem Niveau wird 2022 am häufigsten hin und her gehandelt, der Kursbereich wird von den Notierungen häufig umspielt. Darüber schrumpfen die Volumenprofilbalken, dort wurde weniger gehandelt, was logisch ist, nur im Januar und Februar hielt sich der Kurs in dem höheren Bereich auf.
Dagegen schwillt das Volumenprofil unterhalb der roten Querlinie an: Auf den niedrigeren Niveaus wurde 2022 häufiger gehandelt. So liegt der derzeitige DAX-Kurs exakt auf einer Höhe der Entscheidung, und er weiß nicht, beziehungsweise die Anleger wissen nicht, wofür sie sich entscheiden sollen.
Folglich eiert der Index seit drei Wochen auf dem Niveau herum, er kann das weiter tun, aber irgendwann kommt die Entscheidung, und dann hilft einfache Psychologie. Verluste schmerzen mehr als Gewinne erfreuen. Anleger erinnern sich gut an Verluste, die sie in den letzten Monaten erlitten haben. Verluste aus Jahren davor spielen immer weniger eine Rolle, die Erinnerung verblasst. Verliert der DAX, aus welchen Gründen auch immer, das aktuelle Kursniveau, so wird es mit Wahrscheinlichkeit zügig abwärts gehen, da kursverlusterfahrene Anleger ihnen bekannte, schon einmal oder gar mehrfach erlittene Schmerzen vermeiden wollen und verkaufen.
Geht es dagegen aufwärts, wiederum aus was für Gründen auch immer, so wird der Anstieg nicht gedämpft durch Anleger, die kürzlich erlittene Verluste heilen wollen, indem sie sogleich verkaufen, wenn eine Kurshöhe wieder erreicht worden ist, zu der sie eingekauft haben, bevor ihnen die Position in den Verlust rutschte.
Die Erkenntnis ist für Börseninteressierte, welche die Zukunft nicht kennen, sich die Zukunft auch nicht prognostizieren oder von Propheten verkündet haben wollen, geldviel Wert. Entscheidet sich der Index nach der wochenlangen Phase der Unsicherheit für eine Richtung, das heißt entscheidet sich die Masse der Einzelaktienanleger, dann kann es nach der Entscheidung schnell gehen und der Index markant in die einmal eingeschlagene Richtung marschieren. Der quicke Anleger sattelt auf.
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