
Lage & Szenarien vom 4.12.2022
Die Rezession kommt
Von Frank Sauerland
Anfang Dezember darf ich einen Rückblick wagen auf das bisherige Börsenjahr 2022. Um einen Ausblick zu gewinnen auf das Börsenjahr 2023.
Der Vergleich von vier Indices bringt überraschende Einsichten. Die vier Indices sind im Chartbild oben zu sehen, das Ding sieht zunächst komplex aus, es ist aber einfach.
Links starten die vier Indices mit dem Jahresbeginn 2022. Den Börsianern steht eines der fürchterlichsten Börsenjahre bevor, welches sie erlebt haben.
Natürlich existieren Börsenjahre, die noch schlimmer verlaufen sind. Aber aus biologischen und vor allem aus materiellen Gründen kennen die meisten Börsianer solche Jahre aus eigenem Erleben nicht, und das ist schon einer der Gründe, warum das Jahr 2022 gefühlt so fürchterlich ist: Es fehlt die Übung, mit solchen Jahren umzugehen. Wer das Jahr bis heute depotmäßig überlebt hat, der gehört zu den Könnern. Die erzielte Rendite ist fast nachrangig; es zählt, weiter dabei sein zu können. Ein wenig ist es wie bei dem bösen Spruch über Motorradfahrer: Es gibt alte Motorradfahrer und es gibt schnelle Motorradfahrer, aber alte schnelle Motorradfahrer gibt es nicht.
An der rechten Seite des Chartbildes sind die Namensabkürzungen der Indices aufgelistet:
- der altehrwürdige Dow Jones Industrial Average (DJI, Tagesstäbchen)
- der moderate NYSE Composite Index (NYA)
- der US-Standardindex S+P 500 (SPX)
- der DAX-auf-realistisch iShares MSCI German Index Fund (EWG)
Alle vier Indices sind in Dollar notiert, ihre Performance wird rechts mit Prozentzahlen angezeigt. Die vier Indices steuern von Januar bis März stramm abwärts. Im März 2022 ist ein erster Kurstiefpunkt erreicht und der gemeine Anleger mag denken, das Schlimmste läge hinter ihm … Er kennt den Oktober noch nicht. In den Sommerwochen geht es hoch mit den Kursen, Börsenhändler schöpfen Hoffnung, investieren, riskieren … und verlieren, wenn sie nicht rechtzeitig absichern. Denn der September wird garstig, der Oktober schrecklich.
So weit die oberflächliche Sicht; unter der Decke sind die entscheidenden Entdeckungen zu machen. Zunächst ist offensichtlich, dass der deutsche Index in diesem Vergleich am meisten verliert. Am tiefsten Punkt sind es heftige 40 Prozent.
So ist nachvollziehbar, dass er seit Oktober am stärksten aufholt im Vergleich zu den anderen Indices: Das ist Mean Reversion bei der Arbeit. Das heißt, ein Index hat die Tendenz, aus einer Übertreibung in seinen Normalzustand zurückzukehren. Keineswegs leite ich aus der aktuellen Bewegung ab, dass es für mich als Privatinvestor nun ratsam wäre, länger und ohne genaue Auswahl breit in deutsche Werte zu investieren. Der langfristige Trend lädt mich dazu nicht ein, und auch nicht die Nachrichten aus dem Feld der gewählten Entscheidungsgewaltinhaber, welche wirtschaftliche Rahmenbedingungen für das Land setzen, die auf Jahre Folgen haben werden.
Am besten geschlagen hat sich im Chartbild der Dow Jones (DJI im Chart, Tagesstäbchen). Er ist einer der ältesten fortlaufend existierenden Indices der US-Börse. Er umfasst 30 US-Werte, ist recht konservativ aufgestellt und wird (zurecht) seit Jahrzehnten wegen seiner fragwürdigen Zusammenstellung kritisiert. Nur … er funktioniert im Jahr 2022. Zumindest tut er es besser als andere jüngere, vermeintlich agilere Indices. Zudem erlaubt der Dow interessante Schlüsse: gerade für die Zukunft, die mich als Anleger besonders interessiert.
Dem Dow Jones in der Performance am nächsten kommt der NYSE Composite Index (NYA im Chart), er enthält nach Firmenschwere gewichtet sämtliche in New York gehandelten Aktienwerte und reagiert auf Marktschwankungen recht moderat, er ist für mich der "Normalo-Anzeiger".
Der S+P 500 (SPX) konzentriert die 500 größten US-Werte, große Computer- und Technologiefirmen haben in ihm ein gewisses Übergewicht. Im Jahr zuvor war der S+P 500 ein Überflieger, dieses Jahr ist er ein Unterflieger.
Spannend ist für mich die Entwicklung des Dow Jones’: Seine Stäbchen liegen zu Beginn des Jahres knapp unter dem moderaten NYSE Composite, während der S+P 500 bereits eine deutliche Underperformance hat. Ab Mitte des Jahres schiebt sich der Dow sachte vor den NYSE Composite, kabbelt sich mit seinem Konkurrenten um die Spitze. Wobei auffällig ist, dass der Dow in Aufwärtsphasen besser läuft als sein Konkurrent (Juli-August sowie seit Oktober, Pfeile 1 und 2), während er in Abwärtsphasen zumindest nicht stärker verliert als der Konkurrent. Rational betrachtet ist der Dow derzeit der interessanteste Index, seit Oktober rennt er geradezu, und der nächste Schritt wäre, sich die 30 Aktien genauer anzusehen, aus denen er sich zusammensetzt. Oder gleich in den Index zu investieren.
Lage. Doch was ist, wenn die Rezession kommt? Schließlich ist die Inflation immer noch hoch und Fed-Chef Jerome Powell signalisiert weiterhin, die Zentralbankzinsen erhöhen zu wollen, was die Wirtschaftstätigkeit belasten wird.
Szenario. Die Rezession kommt. Die drei Worte bringen Aufmerksamkeit. Sie stimmen mit Wahrscheinlichkeit auch. Aber ich muss aufpassen, nicht zu stark darauf anzuspringen. Seit der Steinzeit ist das Menschenhirn trainiert, Gefahren zu wittern. Damals ging es um Leben und Tod, ein Fehler konnte final sein. Aktuell geht es nur darum, dass sich die Wirtschaft wahrscheinlich abschwächt. Wie stark die Abschwächung sein wird, weiß niemand. Vielleicht erleben wir nur ein Rezessiönchen.
Insofern wäre es für mich irrational, jetzt das Steinzeitpanikprogramm abzufahren und mich in Sicherheit zu bringen. Ein Rezessiönchen ist mit Bordmitteln zu überstehen. Zumal viele Börsianer mit ebensolchem Konjunkturrückgang rechnen. Rauf und runter wird darüber berichtet. Eine wirtschaftliche Eintrübung wäre von daher keine Überraschung, und was die Börse nicht überrascht, dass ist großteils in den Kursen bereits enthalten.
Was würde uns überraschen? Das hier: Wenn die Rezession ausfällt.
Ich stelle jetzt nicht die Frage, was in dem Fall mit den Kursen passierte, denn die Antwort ist zu offensichtlich.
Das obige Chartbild zeigt mir jedenfalls, in welchen Bereichen des Aktienuniversums ich mich in einer Rezession besser aufhalten sollte und in welchen Bereichen in Zeiten des Aufschwungs … Oh, die Bereiche decken sich. Wie angenehm.
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