
Lage & Szenarien vom 11.9.2022
Die Aufwärtsschere
Von Frank Sauerland
Am Freitag stiegen die Kurse an der Wallstreet auf gesamter Breite. Zum ersten Mal seit einem Monat konnte die Weltleitbörse mit einem Wochengewinn abschließen.
Das ist bemerkenswert. Denn nach dem geradezu brutalen Rede-Auftritt des mächtigen US-Notenbankchefs Jerome Powell beim Banker-Symposium in Jackson Hole vom 26.8. hatten den Wallstreetiers endgültig die Hände gezittert, und im Zweifel drückten die Zitterer den Verkaufsknopf, oder sie shorteten Aktien, setzten also auf fallende Kurse.
Fed-Chef Powell hatte schließlich angekündigt, seine Politik der Zinserhöhungen durchzuziehen, auch Schleifspuren bei Wirtschafts- und Beschäftigungszahlen hinzunehmen, um die Inflation einzudämmen. Gehen die Zinsen hoch, fallen die Kurse. So einfach ist die Rechnung der Finanztaktiker und -praktiker, und an der Stelle wird es interessant:
Schaue ich mir nämlich den Chart oben an und weiß zugleich, dass der Pessimismus bei den Händlern genauso auf einem historischen Hoch ist wie ihre Short-Quote, dann zeigt der Chart mögliche Zukunft, obwohl er nur Vergangenheit notiert, und was kann es für einen Börsenengagierten Aufregenderes geben, als einen Blick zwischen den schweren Samtvorhängen der Gegenwart hindurch auf künftige Entwicklungen zu erhaschen.
Die Stäbchen des Charts dokumentieren die jeweiligen Tageskurse des amerikanischen S+P 500-Index’. Ich fasse den Index als Signalanzeiger für den Zustand der US-Wirtschaft und -Börse auf, und da die US-Wirtschaft zentral für die Weltwirtschaft ist, sagt der Index auch etwas über den Zustand der Weltwirtschaft.
Seit Jahresbeginn (links im Chart) zeigt der übergeordnete Trend abwärts, ich habe darüber letzten und vorletzten Sonntag geschrieben.
Zusätzlich zum Stäbchen-Index habe ich oben im Chartbild einen Linien-Index eingeblendet, nämlich die „S+P 500 Aktien über der 50-Tage-Linie”. Das ist ein spannendes Vehikel und den spannendsten Punkt habe ich mit einem himmelblauen Pfeil markiert.
Die Spannung entsteht im Zusammenspiel der beiden Indices, und sie hat zu tun mit dem speziellen Charakter des Linienindex’. Der S+P 500 wird von den großen Tech-Unternehmen dominiert, man kann auch sagen: verzerrt. Apple, Google, Microsoft und einige andere Companys sind so erfolgreich, so sehr gewachsen, dass sie als Marktschwergewichte den Index stark beeinflussen. Wenn zum Beispiel die Apple-Aktie ansteigt, dann hat das auf den Kurs des S+P 500 kräftig Auswirkung. Viel mehr Auswirkung, als wenn zwei, drei, vier kleinere Index-Mitglieder im Kurs ansteigen.
Das muss nicht schlecht sein, es entwertet den Index nicht. Ich muss mir nur klar über den Effekt sein. Bei der „S+P 500 Aktien über der 50-Tage-Linie” fällt dieser Effekt weg. Die Linie zeigt die Breite und Stärke einer Marktbewegung an, ohne die „Schwere” einzelner Aktien zu berücksichtigen; durch den Tagesglättungsfaktor 50 ist die Linie für mich auf kurz- bis mittelfristige Trends fokussiert. Genauere Erläuterungen zur Theorie dahinter bietet etwas diese Aktienchartschule.
Vorsicht, das ist dort eine etwas staubig-theoretische Lektüre.
Im August startete eine Sommererholung bei den Kursen. Die meisten nicht-investierten Anleger werden die Erholung verpasst haben. - Woher ist das weiß? Der Chart sagt es mir. Der Linien-Index schoss hoch (Pfeil), was bedeutet, die Aktienkurse zogen in der Breite an. Der S+P 500-Index, also der Stäbchen-Index, markierte im selben Zeitraum nur einen mäßigen Anstieg und so entstand die große Lücke zwischen den zwei Indices: die Aufwärtsschere. Dann kamen die S+P 500-Kurse zurück und der Abstand zum Linien-Index verschwand, die Breite brach zusammen, und die nicht-investierten Anleger sagten sich und anderen: „Siehste, ich wusste es doch, nur eine Sommerrally und nichts Nachhaltiges.”
Sie haben recht gehabt. Sie hätten auch Unrecht haben und nur noch den Schlusslichtern des abdampfenden Kurszuges hinterher sehen können.
Hätte hätte Fahrradkette? - Nein. Es ist einer der seltenen Momente des Vorhanglüpfens. Wenn der Zug anfährt, dann wird er mit Wahrscheinlichkeit mit Karacho anfahren, und die Schnellaufspringer werden die Gewinner sein. Denn:
- Siehe oben, die Stimmung ist im Keller, die Short-Quote hoch.Noch nie hat die Fed es hinbekommen, die Zinsen zu erhöhen und eine Rezession zu vermeiden.
- Sie wird es auch diesmal nicht hinbekommen. Das ist doch sicher. - Nur: Wenn es sicher ist, dann ist es sicher in den Kursen drin. Dann habe alle schon daran gedacht, und mein Kopf enthält kein schlaueres Gehirn als andere Köpfe, die sich mit dem Thema auseinandersetzen.
Wer soll noch verkaufen, wenn schon alle verkauft haben, weil die Rezession kommt?
Kommt nun eine kleine gute Nachricht, eine nette Firmenaussicht, die richtige Arbeitslosenzahl, ein zusammenklappender Ölpreis, ein sanftes Powellwort, dann ist die Wahrscheinlichkeit da, dass wir ein zweites Mal erleben, wie die Schere aufgeht zwischen dem S+P 500 und dem Linien-Index. Die Nachricht selbst ist gar nicht so entscheidend, sie ist nur Katalysator.
Wie anders war der Charakter des Linien-Index vor dem Augusthochreißer, da krauchte er dauernd unterhalb des S+P 500 herum, das heißt nur einige Aktienschwergewichte verhinderten einen noch stärkeren Abwärtstrend — oder verdeckten ihn bloß, während Normalo-Anleger beim Blick in ihre vorbildlich diversifizierten Depots schon mit den Zähnen knirschten und ihre Stimmung immer schlechter wurde.
Die Aufwärtsschere auch noch als Timing-Indikator betrachten zu wollen, wäre übrigens eine Überforderung des Instruments. Immerhin zeigt die Schere, wie es ablaufen kann, wenn der Markt sich nach oben in Bewegung setzt. Das ist schon eine ganze Menge und ich kann mich vorbereiten.
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