
Lage & Szenarien vom 30.10.2022
Grünes Meer mit roten Löchern
Von Frank Sauerland
Die summarische Lage, für den eiligen Leser knapp zusammengefasst: Sie ist einfach. Und das Szenario: gut und mit einer klaren Karte versehen, siehe obiges Bild. Solch eine deutliche Karte hat man selten an der Börse.
Zu sehen ist die Marktkarte des Börsendatenanbieters Finviz. Ich habe die Karte auf Wochenansicht gestellt. Dadurch wird ein interessanter Trend sichtbar. Die Wochenansicht notiert die prozentualen Kursveränderungen der letzten fünf Handelstage (24.-28.10.). Je mehr Kursgewinn erzielt wurde, desto grüner sind die Kästen. Je mehr Verlust eine Aktie angehäuft hat, desto röter ist ihr Kasten gefärbt.
Versammelt sind in der obigen Marktkarte die Mitglieder des S+P 500. Der Index enthält die marktführenden US-Aktienunternehmen und er dient mit als Anzeiger für den Zustand des US-Aktienmarktes und letztlich auch der Aktienmärkte der westlichen Welt, da die meisten Börsianer zumindest mit einem Auge zur Wallstreet blicken, meist sogar mit beiden Augen.
Die Größe der Kacheln gibt die Marktschwere ( = Kapitalisierung) der Unternehmen an. Die Kacheln sind zu Themengruppen geordnet. Ich kann schnell erfassen, welche Segmente gerade gefragt sind und welche nicht. Die Wochenkarte zeigt mir ein grünes Meer mit roten Löchern. Es gibt Nachrichten zu den roten Löchern. Die Nachrichten dienen Anlegern als Begründungen für Kursentwicklungen, und ich nenne kurz einige Nachrichten, um sie dann beiseite zu legen.
Die großen Tech-Konzerne haben in der abgelaufenen Woche Geschäftsberichte vorgelegt und enttäuscht. Zuckerbergs Meta/Facebook verliert sich in virtuellen Horizon Worlds, welche man nur mit einer vorgeschnallten Computerbrille von Backsteingröße betreten kann. Währenddessen sacken Zuckerberg die realen Werbeeinnahmen bei Facebook weg. Auch Alphabet hätschelt jede Menge polierter Projekte, statt sich um die entscheidende Werbeeinnahmen-Cashcow Google zu kümmern, deren Melkmaschine neuerdings Luftblasen saugt und mit Rezessionsrasseln alarmiert. Die Zinserhöhungen der US-Notenbank Fed machen sich bemerkbar, Unternehmer fürchten eine Konjunkturkrise und streichen vorsorglich Werbebudgets zusammen. Amazon wird vorsichtig beim Ausblick, die Konsumenten könnten sich manchen Lustkauf klemmen. Auch fehlt dem Unternehmen - so der Eindruck manches Anlegers - jetzt schon der Biss des vor kurzem freiwillig ins Glied zurückgetretenen Gründers Jeff Bezos. Ein unsicherer Ausblick und ein fehlender Bezos reichen Risiko-managenden Investoren schon, um Amazon-Papiere im großen Stil abzustoßen und damit den Kurs auf Talfahrt zu schicken.
Oh ja, diese News-Schnipsel sind interessant. Sie verquicken Gossip (Zuckerberg, Bezos) mit Facts und Aussichten. Die Mischung ist süffig. Ich könnte sie weiter andicken mit Elon Musk und seinem Waschbecken-Auftritt bzw. -Eintritt bei Twitter ... — Aber als Anleger lenken mich leichtgängige News ab. Sie behaupten Ursache-Wirkung-Zusammenhänge. Die manchmal tatsächlich bestehen können, manchmal auch nicht. Sie verlocken mich zu glauben, ich verstünde das Jetzt nach ihrer sämigen Lektüre besser und könne daraus sogar schlussfolgern, was morgen passiert.
Ich kann es nicht, ich habe mir bloß eine Wirklichkeit konstruiert, in der Form, die mir als Mensch am besten liegt: mit bunten Geschichten als bunte Geschichte.
Das ist völlig in Ordnung. Nur: Als Grundlage für meine Entscheidungen im Aktienmarkt sind bunte Geschichten suboptimal. Am Markt halte ich mich besser an das, was ich sehe.
- Große rote Kacheln. Big Tech-Konzerne waren in der Home-Office-Zeit angesagt. Ihr Geschäftsmodell ist weniger lukrativ im Umfeld steigender Zinsen, fallender Umsätze und Infektionszahlen. Das glauben Investoren und verkaufen entsprechende Aktien. Sie machen damit die Realität, die sie annehmen.
- Grüne, vorwiegend kleinere Kacheln. Die anderen Segmente sind von Anlegern gesucht und werden gekauft. Seit März 2021 sind die Kurse kleinerer US-Unternehmen bereits unter Druck. Viele dieser Unternehmen galten als zu konventionell, zu sehr verhaftet in herkömmlichen Geschäftsmodellen und beschäftigt mit der Herstellung physischer Produkte mit geringer Gewinnspanne.
Beuge ich mich mit der Lupe über die Karte, kann ich ein weiteres interessantes Detail rechts unten entdecken. Dort sind die Öl- und Gasfirmen konzentriert, und die waren in den letzten Wochen und Monaten angesagt. In der abgelaufenen Woche fallen sie, relativ gesehen, zurück.
In einer Rezession wird weniger Energie benötigt. Anleger, die eine Rezession vorauszusehen glauben, verkaufen. Das drückt die Kurse. Für mich gibt es aber noch einen zweiten, wichtigeren, weil grundsätzlicheren Grund für den Kursrückgang im Sektor. Der Sektor zeigt eine Unterperformance, weil er zuvor eine Überperformance hatte.
Es ist der gleiche Mechanismus, der sich auch im großen Bild zeigt. Big Tech geht auch zurück, weil die Kurse der Big Tech-Unternehmen zuvor über Monate stark gestiegen sind. Die kleineren Aktienunternehmen holen auf, weil sie seit März 2021 vernachlässigt wurden. Der Markt schwingt, er justiert nach. Börsenforscher nennen den Effekt Mean Reversion.
Das Schwingen werden wir mit Wahrscheinlichkeit auch in der anbrechenden Woche erleben, also auf kürzerer Zeitebene. Die großen Verlierer der letzten Woche werden hochschnappen, die großen Gewinner zurückfallen. Aber das bedeutet nicht, dass Beliebigkeit herrscht. Es sind kurzfristige Effekte. Für die mittelfristige Sicht kann mir die mittelfristige Karte dienen, welche das grüne Meer mit roten Löchern zeigt.
Die zufriedenstellende Navigation durch die nächsten zwei Wochen sollte auch für Hobby-Kapitäne wie mich möglich sein. Ich nehme die grüne Karte, umschiffe die roten Löcher und markiere mir zwei Wegmarken:
- Am kommenden Mittwoch, dem 2.11., wird Fed-Chef Jerome Powell sich über die weiteren Zinserhöhungen in den USA äußern. Börsianer werden die Äußerungen beurteilen und ihre Beurteilungen bewegen Kurse. Je nach Zeithorizont der Anlage werde ich reagieren.
- Eine Woche darauf, am 8.11., finden in den USA die Zwischenwahlen statt. Womöglich werden die Demokraten Sitze im Kongress verlieren. — Wahlen bewerten Wallstreet-Händler als Unsicherheitsfaktor. Mit dem Wahltag und -ergebnis verschwindet die Unsicherheit. Das ist positiv für die Börse, egal wie das Wahlergebnis lautet.
Die Karte ist da, die Wegpunkte sind markiert. Ich gehe orientiert in die Börsenwoche. Als Restrisiko bleiben Unvorhersehbarkeiten. Ein Hurrikan vor Taiwan, ein Herzschlag in Washington, ein Pilz über Berlin. Als rationaler Anleger ignoriere ich derartige Unwahrscheinlichkeiten. Sie sind unkalkulierbar und verhinderten jedes Anlegen.
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