Aktien Blog 2022Ansichten eines Aktienanlegers

Lage & Szenarien vom 26.6.2022

Der Haken

Von Frank Sauerland

Für den eiligen Leser schreibe ich das Ergebnis gleich vorweg: Bitte weitergehen, am Markt gibt es zwar viel zu sehen, aber (noch) wenig zu tun. Der Sommer ist da und kurz und will genutzt werden. Für alles mögliche. Nicht aber unbedingt fürs Hin- und Herhandeln von Aktienpositionen. Wenn ich als mittelfristig orientierter Anleger bereits defensiv aufgestellt bin, kann ich das - Stand heute - auch noch im Herbst machen.

Die Details: Oben zu sehen ist das Bild des führenden US-Aktienindex’ S+P 500, in welchem die großen US-Unternehmen versammelt sind. Der Chart zeigt den bisherigen Kursverlauf im Jahr 2022: abwärts. Rechts zu sehen ist „der Haken”, so nenne ich das Phänomen auf die Schnelle. Seit fünf Handelstagen geht es aufwärts. Am bislang letzten Handelstag, dem Freitag, 24.6.2022, stieg der S+P 500 um 3,1 Prozent, was der höchste Ein-Tagesgewinn seit mehr als zwei Jahren ist.

Der Vorsitzende der mächtigsten Zentralbank der Welt, Fed-Chef Jerome Powell will die hochschießende Inflation bekämpfen, dafür erhöht er die Zinsen. Zunächst nahmen ihm die Aktienanleger das nicht recht ab, dass er es mit den Zinserhöhungen ernst meine, zu sehr waren sie an eine Fed-Politik des leichten Geldes gewöhnt. Doch seit sie ihm glauben, taumelt der Aktienmarkt abwärts. Jerome Powell sagte letzte Woche: „Wir haben Preisstabilität in dieser neuen Welt zu finden.” Gemeint ist damit die neue Welt des Krieges, der knappen Güter und Rohstoffe. Der Ölpreis geht hoch. Powell: „Es gibt nicht wirklich etwas, was wir beim Ölpreis machen können.” Zunächst klingt das resigniert, vielleicht altersweise. Jedoch ist auch eine andere Lesart möglich und wahrscheinlicher, wenn ich bedenke, dass Powell mehrmals einen Amtsvorgänger aus der Reagan-Zeit als Vorbild genannt hat, den Zins-Hardliner Paul Volcker. Powell könnte die Zinsen weiter erhöhen und dabei eine erlahmende Wirtschaft nicht nur in Kauf nehmen, sondern hervorrufen wollen. Damit nämlich gelänge es der Fed doch, Einfluss auf Öl- und Rohstoffpreise zu nehmen, die in einer Rezession schnell zurückgingen. Das Problem wäre eine in der Folge steigende Arbeitslosigkeit. Powell auf die Frage, wie er darauf reagieren würde: „Die Antwort ist, es kommt darauf an.”

Soweit zum Hintergrund, seit den kräftigen Kursgewinnen vom Freitag ist eine neue Lage entstanden, scheinbar. „Das Wachstum kommt runter, vielleicht schneller als gedacht. Das sollte es der Fed erlauben, ab einem gewissen Punkt weicher zu werden”, schätzt Esty Dwek, Investment-Chefin der Flow-Bank, die neue Lage gegenüber dem Wall Street Journal ein. Das heißt einige Börsianer setzen gerade die Beobachtung, mehr noch die Hoffnung in Kurse um, das Wirtschaftswachstum schwäche sich aufgrund der bisherigen Zinserhöhungen bereits ab und Powell könne „weich” werden.

Jetzt haben wir die Nase bedenklich tief in die Vorhersagetasse gesteckt und sind kurz davor, im Kaffeesatz zu lesen. Das ist immer interessant. Aber es verführt zu hektischen Handlungen, und hinterher fragt man sich: Wie konntest du nur?

Hebe ich die Nase und schaue über den Tassenrand, so sehe ich das Bild:

Der Chart zeigt die Kursverläufe dreier Indices. Sie starten links bei null Prozent, und die graue gerade Linie ist die Null-Prozent-Linie. Lila ist der deutsche Leitindex DAX in seiner Ausformung als Kurs-DAX. Im Kurs-DAX sind die Dividenden nicht mit einberechnet, er ist damit mit den anderen Indices vergleichbar, die ebenfalls ohne Dividende berechnet werden. Die grüne Linie zeigt den IWM an. Das Kürzel IWM steht für den US-Index Russell 2000, in ihm sind mittelgroße und kleine US-Unternehmen konzentriert, die sich grob unter „eher-konservatives-Geschäftsmodell” einordnen lassen. Die Stäbchenfolge-Linie ist der KOSPI, der südkoreanische Leitindex. Südkorea steht für „zukunftszugewandter Tigerstaat auf dem Sprung”. Ich nehme den KOSPI als Stimmungsindikator für Anleger-Optimismus.

Es gibt Entdeckungen zu machen: Einige Annahmen bestätigen sich, andere Entwicklungen überraschen. Vor allem bietet der Chart Perspektiven für mittelfristig orientierte Anleger, die sich am Kopf kratzen und eigentlich auf dem Absprung sind in den Jahresurlaub. Sie können guten Gewissens urlauben, mit Wahrscheinlichkeit von heute (und natürlich bereits richtig aufgestelltem, defensiven Depot) verpassen sie wenig. Den übergeordneten Trend habe ich mit einem Pfeil eingezeichnet, der zeigt abwärts.

Das erste Chartbild oben, vom S+P 500, verdeutlicht den kurzfristigen Trend mit einem Hoffnung machenden Hakenpfeil. Davon ist wenig übrig im zweiten Chart, welcher den längeren Zeitraum seit Februar 2020 abbildet. Ganz rechts im grünen IWM ist er zu sehen, der Haken. In der Perspektive aus einigem Abstand ist das nur ein weiterer Zacken … im Abwärtstrend.

Wenn der Zacken doch zur Wende werden sollte, dann ist der Sommerurlauber längst wieder zu Hause, schaut sich die Wende an und kann investieren. So hat er den Sommer mitgenommen und kassiert auch noch die Gewinne ab Herbst und lässt bei alldem wenig Nerven. Für den kurzfristiger agierenden Trader sieht die Sache anders aus. Sollten die Gewinntage an der Börse in die nächste Woche hinein anhalten, die Inflation "ausgepreist" werden, so baut der Trader seine Positionen auf.

Die weiteren Beobachtungen, es sind Augenöffner für Zukunftssucher: Alle drei Märkte starteten mit gleicher Chance, bei Null kurz vor der Pandemiepanik, die zum Absturz im März 2020 führte. Es trennt sich die Spreu vom Weizen, Tiger-KOSPI und US-Aktienmittelklasse kommen aus dem Knick, sicher mit freundlicher Hilfe der Fed. In den USA gab es zusätzlich Barschecks von der Regierung an die Bevölkerung, und das Geld wollte ausgegeben werden und half Firmen und Kursen. Doch auch die europäische Zentralbank trat aufs Gas, senkte die Zinsen und hält sie immer noch niedrig. Die DAX-Unternehmen jedoch können die PS nicht auf die Straße bringen, die Kursentwicklung ist verhalten und fällt nun wieder zurück, obwohl die EZB noch gar nicht auf die Bremse getreten ist. Der DAX endet im Chart bei minus 12 Prozent. Das ist niederschmetternd. Gründe für eine Änderung des Deutschlandtrends sehe ich keine.

Der IWM deutet den Haken an, dazu ist alles gesagt. Der Index schafft 4 Prozent im Betrachtungszeitraums des zweiten Charts. Bewertungsübertreibung geht anders.

Der KOSPI schießt zunächst höher hinauf als der IWM, der Tiger ist mutig, er will aufholen, Südkorea brummt, die Anleger trauen sich etwas und investieren. Doch in den letzten Wochen ist der Absturz kräftig, das Anlegervertrauen dahin. Vorstellbar ist, dass die Firmen hoch bewertet sind und ausländische Anleger ihr Geld in Zeiten steigender Zinsen aus dem Land abziehen, was die Kurse unter Druck setzt; von einem Kurs-Haken wie bei US-Indices ist jedenfalls nichts zu sehen.

Das mittelfristige Szenario: Der Abwärtstrend ist bisher nicht gebrochen. In den USA gibt es einen Wendeversuch. Bisher ist der Versuch für den mittelfristig orientierten Anleger nicht mehr als ein Zacken im bestehenden Trend. Wird es doch mehr als ein Zacken, bleibt Zeit zu reagieren. Deutsche DAX-Unternehmen sind im Durchschnitt uninteressant.

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