Aktien Blog 2022Ansichten eines Aktienanlegers

Lage & Szenarien vom 19.6.2022

Bär mit Biss

Von Frank Sauerland

4 Prozent geht es im DAX bergab in der gerade überstandenen Woche. 5,8 Prozent Minus sind es beim US-Leitindex S+P 500. In der führenden Aktienanleger-Nation USA ist das einer der schärfsten Kursrückgänge, seit die Covid-Pandemie im März 2020 die Kurse in die Knie zwang.

Dreh- und Angelpunkt der Woche ist der Mittwoch: US-Zentralbankchef Jerome Powell tritt vor die Öffentlichkeit und kündigt eine Zinsanhebung beim Dollar um 0,75 Prozent an. Die Kurse machen einen Freudensprung, zunächst. Die kräftige Zinsanhebung ist erwartet worden, sie hat sich bewahrheitet, die Unsicherheit entweicht aus dem Markt. Doch über Nacht ändert sich die Einschätzung der Börsianer, und am nächsten Handelstag ist die Freude über die erwarteten 0,75 Prozent umgeschlagen in die Furcht vor einer Rezession, welche durch diese und angekündigte weitere Zinserhöhungen ausgelöst werden könnte.

Da stehen wir nun. Tief im Krater, der durch Verluste ins Depot gerissen wurde. Oder hoch auf einem Berg von Cash, bei dem recht unklar ist, wie davon runterzukommen ist, ohne alles ins Rutschen zu bringen.

Der Mensch im Verlustkrater ist der interessantere Fall, denn ihm bietet sich eine seltene Gelegenheit. Zumeist geht es an der Börse aufwärts, das ist das Erfolgsgeheimnis dieser von der Masse unterschätzten Anlageform. Seltener schlappen die Kurse ein bisschen abwärts, noch seltener geht es im breiten Markt kräftig und ausdauernd, über Tage und Wochen abwärts. In einer solchen Phase befindet sich der Markt gerade, und der Unglücksrabe im Krater hat sich in solcher Spezialphase zusätzlich in eine missliche Lage gebracht.

Sie ist teuer. Also sollte er etwas verlangen für sein Geld.

Zumindest Erkenntnis darf es sein, wenn wir schon die Kurse nicht für ihn hochstemmen können. Ich kann vieles in Gedanken durchspielen, doch wenn die Kurse abwärts rauschen, dann wird die Sache plötzlich richtig farbig und echt, die Angst schwitzig, die Panik magenknetend und der Schlaf schlecht. Es dreht sich nicht länger um ziselierte Sektoraufstellungen, richtige oder falsche Aktien, da geht gerade alles den Bach herunter, monatelang aufgelaufene Gewinne, jahrelange Ersparnisse und vor allem die eigene Psyche.

  • Es ist der Moment, da ich meine eigene Risikotoleranz kennenlerne. Vorher war sie nur gedacht. Jetzt ist sie real und woanders als gedacht. Die reale Toleranzschwelle werde ich mir festzwicken in einer der hinteren Gehirnwindungen, für die besseren Zeiten, die kommen werden, damit ich mich dann erinnere an meine wahre Toleranzschwelle. Nur wenn ich die Schwelle kenne, kann ich wie ein erwachsener Börsianer investieren. Sie sitzt ziemlich genau da: Wenn mir ein großer Verlust so schwer im Magen liegt, dass ich das Wochenende nicht mehr ruhig verbringen, keinen klaren Gedanken fassen kann. Dann werde ich mein Engagement in risikoreichen Anlagesektoren zurücknehmen müssen und zwar bis zu dem Punkt, da mir solche Verluste kein Magengrimmen verursachen, allenfalls eine leichte Verstimmung. Denn mit unklaren Gedanken werde ich in herausfordernden Situationen schlechter entscheiden als mit klarem Kopf und leichter Verstimmung.
  • Es ist der Moment zu schauen, ob ich meine Anlagen ausreichend diversifiziert aufgestellt habe. Ein Bärenmarkt macht Angst. Habe ich mich aber zusätzlich auf falsche Sektoren konzentriert, kommt Panik auf. So liefen Big Tech-Titel in der Fed-gestützten Aufwärtsphase seit März 2020 sensationell. Das konnte dazu verleiten, sich zu sehr auf solche Aktien zu konzentrieren. Jetzt ist der Preis zu zahlen für ein aus der Balance geratenes Depot.
  • Wenn ich plane, auf lange Sicht im Aktienmarkt zu investieren, dann ist jetzt der Moment, Zukaufmöglichkeiten zu sichten. Ein aktueller Kursrückgang bedeutet, dass ich mich billiger an einem Aktienunternehmen und seinen künftig erwirtschafteten Gewinnen beteiligen kann. Natürlich nur, wenn ich das richtige Unternehmen erwische … Für die Auswahl ist nun Zeit, die Kurse werden nicht auf dem Absatz nach oben drehen, ich kann sorgfältig wägen und eine Watchlist zusammenstellen, um scheibchenweise - und nicht zu früh startend - in Qualitätstitel einzusteigen.

Die Lage habe ich zu Anfang geschildert. Das Szenario: Aufwärts jedenfalls nicht, der Bär hat Biss. Die Fed hilft nicht länger mit frischem Geld. Die EZB, ihr europäisches Gegenstück, würde dem europäischen Markt zwar gern helfen, kann es aber nicht, denn auch hier schießt die Inflation hoch. Ein gerade erst verkündeter zaghafter EZB-Versuch, die Zinsen anzuheben, hatte diese Woche gleich eine Notfallsitzung des EZB-Rates in Frankfurt zur Folge; denn sofort knirschte es im Euro-Verbund an den vorhersehbaren künftigen Bruchstellen. Die müssen mit Finanzvehikeln eingewickelt werden, die am Mittwoch eilig beschlossen wurden. Eine Zeitlang wird das klammen Euro-Staaten helfen, nicht jedoch DAX-Börsianern. Denen hilft im Moment keiner, sie müssen sich selbst helfen in der Marktschwäche und Konsequenzen ziehen. Ich tue es.

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