Aktien Blog 2022Ansichten eines Aktienanlegers
Kurse des S+P 500 seit 2016: Ohne viel Blingbling, aber mit der entscheidenen Hinweislinie.

Lage & Szenarien vom 5.6.2022

Die Baumel-Börse

Von Frank Sauerland

Wir sind Menschen, wir lassen uns von Gefühlen leiten. Die Börse hat es geschafft, auch Gefühle in Kurse zu packen und in einem Chart auf einem Zeitstrahl sichtbar zu machen. Oben ist der Volatility S+P 500 Index zu sehen. Das ist der Kurs­schwankungsbreiten-Index auf den S+P 500, den führenden US-amerikanischen Aktienindex. Die Schwankungs­breite der Kurse, auch Volatilität genannt, gilt als Anzeiger für die Unsicherheit der Anleger.

Aktuelle Nachrichten beeinflussen Kurse und Schwankungsbreite. Die Situation zum Beginn der neuen Woche im führenden Industrie- und Aktienland der westlichen Welt, den USA: Der gerade veröffentlichte Arbeitsmarktbericht zeigt einen weiterhin starken Beschäftigungs­zuwachs. Er ist aber nicht mehr so stark wie in den Monaten zuvor. Die Löhne steigen auf Jahressicht um 5,2 Prozent. Der Vergleichswert im April lag bei 5,5 Prozent. Auch hier ist also eine Abschwächung zu verzeichnen.

Die Führung der amerikanischen Zentralbank Fed beachtet solche Zahlen genau. Die Inflation ist zu hoch, Fed-Vorsitzender Jerome Powell will sie durch Zinserhöhungen einhegen, zugleich durch die Zinserhöhungen keine Rezession verursachen: Ein fast unmögliches Unterfangen, das dennoch versucht werden muss; in der Vergangenheit hat es leider noch nie funktioniert.

Aber die Vergangenheit ist vergangen und die Zukunft ist offen. Der Essayist und Tech-Unternehmer Paul Graham sagt dazu: „Je mehr Erfahrungen eine Überzeugung als richtig überstanden hat, umso weniger wahrscheinlich ist es, dass die Überzeugung falsch ist. Die meisten Menschen glauben daher instinktiv, ihre aktuell übrig gebliebenen Überzeugungen wären die richtigsten.” Mit solchen Überzeugungen beurteilen sie dann erfolgreich Dinge, die sich kaum ändern, zum Beispiel die menschliche Natur. „Aber du kannst nicht auf deine Überzeugungen vertrauen bei Dingen, die sich schnell ändern, also praktisch bei allen anderen Sachen.”

Das ist eine interessante Erkenntnis, sie bestätigt sich bei Börsianern. Kaum einer der Fondsmanager, welche die Finanzkrise von 2007 sensationell meisterten, erreichte danach auch nur durchschnittliche Erträge für seine Klienten. Die Fondsmanager spielten in den Jahren nach 2007 mit ihren bestätigten Überzeugungen immer wieder die erfahrene Finanzkrise. Die Welt aber hatte sich verändert, sie spielte Boom.

Ähnliches gilt für die Internet-Bubble-Krise von 2001 und es wird gelten für den Pandemie-Crash vom Frühjahr 2020 und den anschließenden Big-Tech-Aktienanstieg, der bis in den Dezember letzten Jahres lief. Immer wurden die Regeln geändert, und immer gehörten diejenigen zu den Verlierern, die nach den alten Regeln weiterspielten.

Ich habe hier eine Passivsatzkonstruktion gewählt, die den Verursacher verhüllt: „Immer wurden die Regeln geändert.” — Wer ändert die Regeln? Kenne ich den Regelsetzer?

Es ist die Fed, es ist Jerome Powell. Er ist der Mann des Geldes. Er kann es in den Markt geben. Das machte er nach dem Einbruch infolge der Covid-Panik. Er kann es auch wieder aus dem Markt nehmen.

Dabei ist er jetzt und versucht, die Balance zu finden zwischen Inflationsbekämpfung und Rezessionsvermeidung. Erkenne ich die Fed an als Bestimmer im Spiel und beobachte ihr Vorgehen, dann habe ich womöglich einen ersten kleinen Vorteil gegenüber anderen Investoren, welche die Fed als Regelsetzer im Aktienmarkt ignorieren. Gebe ich dann noch zu, dass die Zukunft unbestimmt ist, dass sich Regeln ändern können, dann habe ich einen zweiten kleinen Vorteil gegenüber jenen, die von einem festen Satz an Regeln ausgehen und womöglich eine Überzeugung haben, wie sich aufgrund ihrer Regeln die Zukunft entfalten wird.

In den letzten Tagen waren die Aktienkurse im Wartemodus. Zuvor verloren sie acht Wochen lang Terrain. Zuletzt, am Donnerstag, schockte Marktriese Microsoft durch die Mitteilung, die Verkaufszahlen gingen zurück und der Geschäftsausblick sei bescheidener, als zunächst gedacht. Börsianer erwarteten daraufhin einen weiteren Kursabschlag, vielleicht rutschte der Gesamtmarkt eine Etage tiefer? Doch nichts davon passierte, die Microsoft-Notierung fing sich im Tagesverlauf, gewann auf Tagessicht sogar leicht hinzu.

Wenn schlechte Nachrichten in einem Markt, der wochenlang vor allem nach unten schaute, keine Schreckreaktion mehr auslösen, dann verändert sich etwas. Dazu passt der obige Volatility-Chart. Jede Kerze stellt eine Woche dar. Im März 2020 reißt es die Notierungen hoch, das ist die Covid-Unsicherheit. Im Chart markiert der linke Pfeil den heftigen Kursausschlag. Die Schwankungsbreite der S+P 500-Aktien geht in den Monaten danach zurück, im Sommer/Herbst 2021 erreicht sie ihren Tiefpunkt: Die Mehrzahl der Anleger, die sich in den Pandemie-bestimmten Aktienmarkt getraut haben, sitzt auf großen Gewinnen, diese Anleger glauben, sie haben die Marktregeln endlich verstanden.

Das haben sie auch. Aber es sind die Regeln des Pandemiemarktes. Powell pumpt Geld in den Markt. Ende November 2021 ahnen die Schlauesten der Schlauen, dass die Regeln geändert werden könnten, der Index zieht an, denn die Superschlauen beginnen umzuschichten. Sie ahnen, das Powell gezwungen sein könnte, Geld aus dem Markt zu nehmen, um die Inflation zu bekämpfen. Ein austrocknender Fed-Geldzufluss würde zurückgehende Aktienkurse bedeuten. Im März diesen Jahres erreicht der Vola-Index einen erneuten Hochpunkt, Putins Krieg spielt hier eine Rolle und die späte Erkenntnis und darauffolgende Umpositionierung der Nicht-ganz-so-Schlauen, dass ab jetzt Inflations- und Rezessions­gefahren das Großthema sind. In den letzten Wochen dann schwächt sich die Volatilität ab, ich habe dort im Chart einen Pfeil eingezeichnet. Zähneknirschend akzeptieren auch die Ich-will-trotz-allem-Rechthabenwoller, die selbstbewusst gewordenen Gewinner des letzten Jahres, die weiter nach den alten Regeln spielen wollten, die neue Spieleordnung. Das heißt, sie haben verkauft oder sie mögen sich ihre Depotleichen nicht mehr anschauen und vergessen sie, so gut es geht.

Damit sind wir im neuen Normal angekommen. Die Masse hat sich umorientiert, sie hat akzeptiert. Für den Sommer ist das keine schlechte Ausgangsposition. Da will ich mich entspannen, am Strand liegen oder Städte entdecken. Die Börse braucht weniger Aufmerksamkeit, die Kurse baumeln herum.

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