
Lage & Szenarien vom 29.5.2022
Absturz – aber nicht überall
Von Frank Sauerland
Stärke steckt in der Ruhe. Nun werden Rekorde herumgereicht: Am 3. Januar diesen Jahres erklimmt der führende US-Aktienindex S+P 500 sein Allzeithoch. Seitdem geht es bergab, rund 18 Prozent bisher. Je nach Definition, Ansicht und Quelle ist das der größte Absturz seit der Finanzkrise, seit der Dot-com-Blase, seit Wann-auch-immer. Jedenfalls ist jetzt ein Bärenmarkt ausgerufen, und auch die Kryptojaner sind schweigsam geworden. Kenner klöppeln Crash-Szenarien. — Es ist hohe Zeit, die Nachrichten abzuschalten und sich die Fakten anzusehen, um ein eigenes Bild zu bekommen.
Das Chartbild oben ist einfach, und es bringt Erkenntnisse. Die Stäbchen zeigen den Kursverlauf des Consumer Staples Select Sector Index’. Jedes Stäbchen steht für eine Woche. Rote Stäbchen bedeuten, die Woche schloss mit Verlust, grüne Stäbchen bedeuten, die Woche schloss mit Gewinn.
Die zusätzlich eingeblendete blaue Linie zeichnet den Kursverlauf des Consumer Discretionary Select Sector Index’. Der Chart beginnt im Februar 2019, er endet mit dem derzeit letzten Handelstag, Freitag, dem 27.5.2022. Der Staples-Sektor wird als Sektor angesehen, in welchem Aktienunternehmen versammelt sind, welche Produkte für den täglichen Bedarf von Konsumenten herstellen. Demgegenüber steht der Discretionary-Sektor, in ihm werden Waren für den gehobenen Bedarf produziert, welche man als Verbraucher durchaus liegenlassen kann, falls das Geld gerade knapp ist.
Die zwei gezeigten Indices bedienen sich bei den betrachteten Aktiengesellschaften aus dem Pool des S+P 500, welcher die großen US-Aktienunternehmen abbildet. Zusätzlich beschränken sich Select-Indices auf die Auswahl der jeweils 15 stärksten Unternehmen im Sektor, die Index-Verläufe sind gegenüber den Non-Select-Indices nahezu gleich.
Im Staples-Index sind beispielsweise enthalten der Konsumgüterhersteller Procter&Gamble, die Großhandelskette Costco Wholesale und der Zuckerwasserabfüller Coca-Cola. Im Discretionary-Index sind die größten Positionen Versender Amazon, E-Autohersteller Tesla und Sportschuhfabrikant Nike. — Offensichtlich lassen sich die zwei Sektoren nur unscharf trennen, es gibt Überschneidungen. In ihrer Gesamtheit betrachtet bleibt aber die Tendenz, dass in dem einen Sektor eher Täglich-nötig-Produkte versammelt sind, in dem anderen Sektor eher Hätte-ich-gern-Dinge. Werden die Zeiten schlechter, kaufen Konsumenten die nötigen Produkte und verzichten auf Sachen, die nur nice to have sind.
Wir leben in Zeiten, in denen es schlechter läuft: Krieg, Blockbildung, Inflation, Lieferkettenschwierigkeiten. Professionelle Anleger, die Aktien in Stückzahlen handeln, welche die Kurse nachhaltig beeinflussen, können nun folgende Denkfigur entwickeln: Steigen die Zinsen, dann werden Unternehmen, deren Geschäftsmodelle vor allem auf Gewinnen in der Zukunft und auf hohen Wachstumsraten beruhen, weniger lukrativ, dafür umso risikoreicher für Anleger sein. Zugleich werden Konsumenten in schlechten Zeiten die schicken Nice-to-have-Produkte weniger nachfragen. Also verkaufen wir als Profi-Anleger besser Aktien aus dem Discretionary-Sektor und schichten in die unverzichtbaren Staples-Unternehmen um.
Natürlich ist das eine unzulässig vereinfachte Überlegung, und der Chart oben hilft auch ohne solche Schmalspurerklärversuche. Ich brauche lediglich den Kursverläufen zu folgen:
- Staples und Discretionary laufen vor der Pandemie ähnlich. Im März 2020 brechen die Kurse wegen Covid ein. Die Folgen der Pandemie sind in dem Moment unabsehbar. Die Marktteilnehmer können nicht einschätzen, wie sich die Wirtschaftslage entwickeln wird.
- Die Schere geht auf. Discretionary rennt in den Zeiten der Pandemie nach oben, Staples hinkt hinterher. Den Hochpunkt erreicht Discretionary im November/Dezember 2021. Es folgt ein erster Rutsch hinunter, ein Verharren, ab März 2022 ein zweiter Rutsch.
- Staples und Discretionary treffen sich wieder, nachdem Discretionary einen wilden Ausflug in höchste Höhen gemacht hat.
Man mag bedenken, dass Amazon ein Schwergewicht im Discretionary-Index ist, und der Kursverfall von Amazon Sondergründe haben kann und den Index verzerrt. Dennoch bleibt die Tendenz bestehen. In den Monaten nach der Pandemie, da die Notenbanken Geld in den Markt gaben und Online-Geschäftsmodelle boomten, gingen Investoren ins Risiko und favorisierten Aktienunternehmen mit zukunftsorientierten Geschäftsmodellen. Solche Aktien wurden bald „teuer”. — Die Langweiler dagegen, die Shampoo und Zuckerwasser abfüllten, blieben unter dem Radar. Wiewohl sie von Februar 2019 bis heute wie die Highflyer rund 40 Prozent Kursgewinn zu verzeichnen haben.
Selbst wenn ich zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt eingestiegen wäre, knapp vor dem Pandemieabsturz im Februar 2020, hätte ich bis heute in etwa 20 Prozent Gewinn gemacht mit den Langweilern.
Für mich die wertvollste Erkenntnis: In der Phase vor der Pandemie, im Chart bei 1 zu sehen, lief der Staples-Sektor langsam hoch, ohne Rücksetzer. Nach dem Einbruch läuft er wieder hoch, unter 2 zu sehen. Dabei macht er nun sanfte Wellenbewegungen. Die letzte Welle ist ausgeprägter. Aber sie ist nichts im Vergleich zu dem wilden Ritt des Vergleichssektors Discretionary. Habe ich also beim Timing von Aktienanlagen ein erwiesen schlechtes Händchen oder ist mein Nervenkostüm vom Leben bereits gezaust, dann bin ich mit einem mittelfristigen Anlagehorizont bei den Langweilern gut aufgehoben. Sie bescherten immerhin 40 Prozent Kursgewinn in den vergangenen vier Jahren. Stärke steckt in der Ruhe.
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