
Lage & Szenarien vom 15.5.2022
Die Gewinn-Automatik
Von Frank Sauerland
Abermals sind die Kurse an der Wallstreet in der abgelaufenen Woche gefallen. Donnerstag und stärker noch am Freitag kam es zu einer Gegenbewegung und nun fragen sich alle Marktbeobachter: Ist der Tiefpunkt erreicht und geht es ab jetzt aufwärts — oder sind wir nur auf einem Etappenrastplatz auf dem Weg nach unten, und kommende Woche folgt der nächste Abwärtsrutsch?
Für eine schnelle Amateuranalyse dazu ist es in Ordnung, wenn ich mich auf die Fed und ihren Leiter Jerome Powell konzentriere. Denn die Fed, die US-amerikanische Zentralbank, ist der stärkste Spieler auf dem Platz.
Über Jahre hinweg war es das richtige Vorgehen, bei Kursrückgängen nachzukaufen, und die unerschrockensten Investoren erreichten die höchsten Renditen, und wenn die Kurse doch nicht wieder hochkommen wollten, dann half die Fed. So war es zum Jahreswechsel 2018/19, die Fed erhöhte damals die Zinsen, im Kursgebälk knirschte es daraufhin hörbar (20 Prozent Rückgang im S+P 500), Powell griff eilig zur Fed-Frischgeldspritze und alles wurde wieder gut, die Notierungen kamen hoch. Nach der Covid-Börsenpanik im Februar 2020 beließ Powell es nicht bei einer Spritze, er legte eine Infusion für die Dauermedikation, und die Märkte mochten es.
Powells Amtsvorgänger Ben Bernanke warnte: „Der Effekt solchen Vorgehens auf die Marktpsychologie ist gefährlich unvorhersehbar.” Zunehmend verlassen sich Börsianer auf das Neugeld aus der Notenpresse. Die Fed will mit Geldinjektionen und Zinssenkungen nicht in erster Linie (aber auch) die Kurse stützen, ihre größere Aufgabe ist, Arbeitslosigkeit zu verhindern sowie für Wirtschaftswachstum zu sorgen. Die Inflation wird sie nachgeordnet auch beachten, da eine ausufernde Inflation wiederum Wachstum und Gesamtsystem gefährden. Ein abstürzender Börsenmarkt liefe den Zielen der Zentralbank zuwider, taumelnde Großunternehmen und sinkendes Verbrauchervertrauen und negatives Wachstum ( = Schrumpfung) hätten Arbeitslosigkeit zur Folge. Billiges Fed-Geld ist daher die billige Lösung für fast sämtliche Probleme. Solange die Inflation nicht auf zu hohe Werte steigt: Wie derzeit, da sie in den USA bei 8 Prozent liegt.
Powell bestätigte am Donnerstag den Fed-Plan, den Zinssatz in einem ersten Schritt um 0,5 Prozent zu erhöhen. Weitere Zinsschritte sollen folgen. Die Fed will in den Markt gegebenes Geld einsammeln. Die Börse reagiert mit einen Kursverlust von 20 Prozent (seit Jahresbeginn, S+P 500). Bisher haben heftige Kursrückgänge im Zusammenspiel mit mehrfache Zinserhöhungen, welche eine Inflation bändigen sollen, immer zu einer Rezession geführt. Das aktuell geplante Vorgehen der Fed hätte also exakt das zur Folge, was die vermeiden möchte.
Powell kann hart bleiben, wie es sein Vorbild und Amtsvorgänger Paul Volcker in den 1980er-Jahren tat. Volcker bekam die US-Inflation in den Griff. Der Preis waren gerupfte Depots und eine Tiefenrezession. „Ich sprach mit Paul Volcker vor rund 10 Jahren”, erzählte jetzt Christopher Waller. Er ist Fed-Governor und gehört zum Entscheidungsgremium rund um Powell. „Volcker sagte mir, ‚Wenn ich gewusst hätte, was passieren würde, ich hätte es niemals getan. Aber da ich nun mal angefangen hatte, konnte ich nicht aufhören.”
Es geht um Glaubwürdigkeit und Nicht-Überraschung. Volcker musste vollziehen, was er angekündigt hatte. Ähnlich argumentiert nun Waller und nimmt hinzu die Erfahrung der Volcker-Rezession: Die Fed brauche keine massiven Zinserhöhungen mit einer zwangsläufig folgenden Rezession. Sie brauche nur gegenüber dem Markt glaubwürdig vertreten, dass es kein weiteres frisches Geld mehr geben wird. Hier schließt sich der Kreis zu Bernanke, der in eine ähnliche Richtung formulierte. Die Aktienkäufer dürften nicht länger glauben, sich auf frisches Fed-Geld zur Marktrettung verlassen zu können. Darüber hinaus gehende demonstrative Geldeinsammelaktionen dürften letztlich den Zielen der Fed zuwiderlaufen.
Die Fed als stärkster Spieler auf dem Platz wird mit leicht erhöhter Wahrscheinlichkeit weniger stark nach vorn stürmen als gedacht. Als Anleger habe ich neben der Fed mit weiteren Möglichkeitselementen zu jonglieren, welche Kurse beeinflussen können. Eine Auswahl:
- Putin kann seine Kriegsziele für erreicht erklären.
- Putin kann Strom/Gas abstellen.
- Der Ölpreis kann fallen, da Firmen in einer erwarteten Rezession weniger produzierten.
- Covid-19 kann harmlos werden, China öffnet Städte und Häfen.
- China kann nach Taiwan greifen, da die zwei anderen Supermächte in der Ukraine beschäftigt sind.
- Ex-Russenpräsident Medwedew kann Biden und Berlin erklären, wie startklar die Iskander-Raketen in Königsberg sind.
Was davon wird passieren? Das wahrscheinlichste: etwas anderes. Etwas, was ich nicht bedacht habe und was andere nicht bedacht haben. So wie wir Covid nicht auf dem Zettel hatten, als wir 2019 Weihnachten feierten. Auch die zwei Flugzeuge, die 2001 ins World Trade Center krachten, kamen unerwartet. Mein Lottogewinn kommenden Mittwoch ist auch eine Überraschung, die ich am heutigen Sonntag nicht in meine Überlegungen einbeziehe. Leben ist Überraschung und die größte spart es für den Schluss auf.
Da muss man mit klar kommen. Zumindest im Finanzbereich des Lebens kann eine Gewinn-Automatik für Erleichterung sorgen. Sie beruhigt die Nerven, verringert die Abhängigkeit von Kremo- und Fedologen (ich kam vorhin in bedenkliche Nähe) und gibt einen klaren Blick. Der Chart oben illustriert die Automatik. Sie kommt ohne Schnickschnack aus, ohne Liniengeflecht, Oszillatoren und FiboGucci-Blingbling.
Abgebildet ist der Kursverlauf des S+P 500, in ihm sind die führenden Aktienunternehmen der USA versammelt. Da die USA die stärkste Wirtschaftsmacht der Erde ist, betrachte ich den S+P 500 zugleich als Hinweisgeber für den ökonomischen Zustand der westlichen Welt. Der Chart startet 2016 und endet mit dem bislang letzten Handelstag am vorgestrigen Freitag. Jede Kerze präsentiert eine Woche. Die Kerzendochte zeigen die höchsten und tiefsten Tagesendkurse der jeweiligen Woche, doch das sind Feinheiten. Wichtig für die Automatik ist die eingeblendete Einzellinie.
Sie zeigt den berechneten Durchschnittskurs der jeweils vergangenen 50 Wochenkerzen an. Die Linie glättet den Kursverlauf, indem sie das gespeicherte Wissen, die gespeicherten Zukunftserwartungen eines vergangenen Jahres gegen den jeweils aktuellen Wochenkurs aufträgt. Die Linie ist gezeichnete Unaufgeregtheit, und so kann ich sie mir als mittelfristig orientierter Anleger nutzbar machen: als im besten Sinne träge Entscheidungshilfe.
Befindet sich der aktuelle Wochenkurs, gemeint ist die Kerze, oberhalb der Linie, habe ich als Mittelfrist-Investor grünes Licht, alles ist in Ordnung, ich bin investiert. Schneidet der Kerzenkurs die Linie von oben nach unten, besteht Handlungsbedarf, eine Verkleinerung des Engagements ist nötig. Ist der Kerzenkurs unterhalb der Linie, bleibt nichts zu tun, es ist kein Markt für mich, er befindet sich offensichtlich in Schwierigkeiten.
Die Automatik funktioniert: Bei den von mir zu Anfang angesprochenen Ereignissen durchschnitten die Kursnotierungen die Linie, eine Engagementverkleinerung war angesagt. Beim Absturz, der tiefer geht, als man zunächst denkt, ist man draußen und beim erneuten Durchschreiten der Linie von unten nach oben, ist man wieder drin und der Aufstieg trägt die Neuanlagen in die Höhe. Bis es wieder abwärts geht: Vor fünf Wochen kam das Signal zum Ausstieg.
Für die anbrechende Woche sagt die Automatik: Der Kursverfall mag vorerst an ein Ende gekommen sein, der lange untere Docht der letzten Wochenkerze deutet darauf hin, dass die Chance für eine Gegenbewegung da ist; aber die 50-Wochenlinie ist von den Wochenkerzen bei weitem nicht erreicht, geschweige denn von unten durchstoßen, und der mittelfristig orientierte Investor wird sein Geld und sich anderen Dingen widmen als schnelllebigen Marktaufgeregtheiten: Ein stabiler Aufwärtstrend ist noch lange nicht etabliert.
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