Aktien Blog 2022Ansichten eines Aktienanlegers
Market-Map des S+P 500: Die Größe der Vierecke symbolisiert die Marktkapitalisierung der Unternehmen.

Lage & Szenarien vom 1.5.2022

Das rote Meer

Von Frank Sauerland

Die Lage ist einfach. Einfach katastrophal. Solch eine Marktkarte wie oben ist selten zu sehen. Sie zeigt ein Meer von Rot.

In der Karte zusammengefasst sind die Aktienwerte des führenden US-Index’ S+P 500, notiert sind die Ergebnisse vom Handelsschluss am Freitag, 29.4.2022. Die Größe der Vierecke symbolisiert die Größe der Unternehmen. Amazon (erste Reihe, Mitte rechts im Bild) hat im gerade beendeten April mit minus 14 Prozent die schlechteste Monatsentwicklung seit 2006 hingelegt.

Vormalige Börsenlieblinge werden geschlachtet. Netflix verliert im April 49 Prozent, Nvidia 32 Prozent, PayPal 24 Prozent. Tech-, FANG-, Halbleiterwerte, die Gewinner der Nach-Pandemie-Ära, werden von Anlegern in großem Stil abgestoßen. Der technologieorientierte Nasdaq-Composite erlebt mit einem Verlust von 13 Prozent den verlustreichsten Monat seit 2008.

Das ist historisch und es gilt, Schlussfolgerungen zu ziehen. Dazu nehme ich den Wochenchart des S+P 500, hier zu sehen:

Die 50-Wochenlinie ist durchstoßen: der S+P 500-Index.

Jede Kerze steht für eine Woche. Rote Kerzen bedeuten, die Woche wurde im Verlust abgeschlossen, grüne Kerzen zeigen einen Wochengewinn an. Zur Orientierung blende ich die 50-Wochenlinie ein. Rollierend bildet sie den Kursdurchschnitt aus den jeweils vergangenen 50 Wochen ab, sie glättet die Kursentwicklung. Ein Wundermittel ist die 50-Wochenlinie nicht, nur ein Wegweiser für Anleger, die mit einem mittleren Anlagehorizont unterwegs sind. Der Anlagehorizont beschreibt die geplante Dauer meiner Anlage. Für einen Daytrader ist die 50-Wochenlinie zu träge. Für einen Mitdreißiger, der die erste Entnahme aus seinem Depot für den Renteneintritt plant, ist sie zu nervös. Um den Chart überhaupt zur Orientierung nutzen zu können, ist für mich die Einschätzung des eigenen Anlagehorizonts wichtig; bin ich auf Wochen- und Monatssicht unterwegs, dann sagt mir das Bild: Jetzt ist kaum der Moment, sich großartig zu engagieren.

Der reine Chart ist für mich ein gutes Instrument zur Entscheidungsfindung. Er zeigt mir, unabhängig von Politik und Weltlage, unabhängig von Nachrichten und Aufgeregtheiten, in Form von Kursen, wie die Mehrheit der Anleger die Lage einschätzt. Ich bin nicht schlauer als die Profi-Anleger von der Wallstreet, die aufgrund ihrer Marktmacht die Kurse entscheidend bewegen. Ich nehme ihre Entscheidungen zur Kenntnis und ziehe Schlüsse für die eigene Anlage.

Die Kursnotierung im S+P 500-Chart erreicht zum Jahreswechsel 2021/22 ihren bisherigen Höhepunkt. Sie fällt auf einen Tiefpunkt in der ersten Märzwoche 2022. Dann reißt es die Kurse hoch, Hoffnung keimt — und ebenso schnell verfällt der Kurs in den letzten vier Wochen wieder, um am vorgestrigen Freitag erneut am Tiefpunkt zu stehen. Die 50-Wochenlinie ist durchschnitten, ein tieferes Hoch markiert, der Optimismus ist verbraucht. Die Wahrscheinlichkeit spricht zur Zeit dagegen, dass der Index-Kurs so bald den Aufwärtstrend wieder aufnehmen kann, den er zum Jahreswechsel verloren hat. Eher wahrscheinlich sind höhere Ausschläge in beide Richtungen, das wird die Nerven und die Zuversicht der Anleger strapazieren.

Als weitere Ebene darf ich Politik und Weltgeschehen einblenden. Ich muss es nicht. Für das Anlegerszenario reichten die Kursdarstellungen, die aktuelle Nachrichtenlage ist Bonus:

  • Der Krieg in der Ukraine kann jederzeit eskalieren. Deutschland ist erpressbar, durch die Abhängigkeit von russischen Erdgaslieferungen und durch russische Atomraketen, an deren Vorhandensein Putin und sein Außenminister Lawrow in dosierten Abständen erinnern und deren schnellsten Exemplare innerhalb von 106 Sekunden in Berlin einschlagen können, wie uns jetzt das russische Staatsfernsehen mitteilte. Es ist Sprachrohr des Präsidenten im Kreml.
  • Covid kehrt nach China zurück. Peking und Shanghai (wichtiger Hafen) sind teilweise abgeriegelt, Produktion und Lieferketten bleiben beeinträchtigt.
  • Die Inflation ist weiterhin hoch. Sie wird getrieben von weltweit steigenden Nahrungsmittel- und Energiepreisen, in Deutschland wirkt dazu eine verfehlte Energiepolitik inflationsverschärfend.

Den wichtigsten Faktor für die Fortentwicklung der Börsenkurse habe ich mir bis zum Schluss aufgespart: Es ist das Verhalten der Federal Reserve (Fed), der US-amerikanischen Zentralbank. Sie ist - noch immer - der mächtigste Spieler auf dem Platz, und ihr Chef Jerome Powell der einflussreichste Börsenflüsterer des Planeten.

Er will die Zinsen erhöhen. Was Aktienbesitzer nicht mögen. Er bewundert Paul Volcker, einen Amtsvorgänger, der zu Zeiten Ronald Reagans der davonpreschenden Inflation mit starken Zinserhöhungen Einhalt gebot. Jedoch ist Powell nicht Volcker, der die Zinserhöhungen entschlossen durchzog und aufheulenden Aktionären standhielt, deren Depots abrauchten. — In seiner bisherigen Amtszeit hat Powell durchaus Nerven gezeigt. Er könnte also im Sommer, wenn die Aktienkurse bis dahin weiter verfallen, vom verkündeten Zinserhöhungspfad abweichen, zumindest verbal: Das dürfte zunächst reichen, um den Märkten Hoffnung und Perspektive zu geben.

Aber Hoffnung ist keine Strategie für Aktienanleger. Die schauen auf ihren Anlagehorizont und wissen damit, was zu tun ist. Vielleicht werden sie und werde ich dann nicht in jedem Fall die einträglichste Entscheidung treffen, immer aber eine rationale und damit richtige. Hoffen dürfen wir zusätzlich; die Hoffnung gehört allerdings in eine andere Kategorie, sie reicht ins Religiöse und Jenseitige, und das passt kaum zu kapitalistischen Geldanlagen, die zu Gewinnen schon im Diesseits führen sollen.

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