Aktien Blog 2022Ansichten eines Aktienanlegers

Lage & Szenarien vom 23.4.2022

Überwintern im Sommer

Von Frank Sauerland


 „Macht behält am zuverlässigsten, wer sie nur zu ihrer Erhaltung nutzt.”

 

Johannes Gross, der große Kleine, notierte den kurzen Satz.

Erkannte Wahrheit ist bündig und klar. Ähnlich kann es bei Charts sein, die klarer werden, je weniger Linien sie haben. Wenn sie Wahrheit enthalten.

Hier zu sehen ist ein Chart, der den Kampf um die größte Machtposition, die auf Erden zu vergeben ist, in Beziehung setzt zu den Aktienkursen. Der Chart hat eine Linie und eine Botschaft.

Palo Alto Networks: Kurs dauerhaft über der 50-Wochen-Linie.

Als Aktionäre sitzen wir auf den Zuschauerrängen der Politikarena. Wir können klatschen, wir können wählen und beobachten. Gesellschaftlichen Gewinn bringt das Wählen, pekuniären das Beobachten. Der Chart Dow Jones Index 4 Year Election Cycle fasst die Beobachtung von 120 Jahren Dow Jones-Index in einem Bild zusammen.

Der Dow Jones ist der große alte US-amerikanische Aktienindex. Im Chart oben werden Vier-Jahresperioden des Dow Jones betrachtet, 120 Jahre lang: das US-Präsidentenwahljahr („Election”), das Jahr nach der Wahl („Post-Elect.”), das zweite Jahr („Midterm”) nach der Wahl, in welchem wir uns augenblicklich befinden und in welchem die Zwischenwahlen stattfinden. Das letzte Jahr im betrachteten Vierjahresrhythmus ist das Vorwahljahr („Pre-Election”). Aus der Index-Kursentwicklung der 120 Jahre wird ein Mittelwert gebildet, er ist als Linie im Bild zu sehen. Daraus wird nun versucht, Schlussfolgerungen für die Aktienanlage zu ziehen. Das ist ein spannendes Unterfangen, aber mir stellen sich zunächst zwei Fragen.

  • Erste Frage: Ist der vor 100 Jahren führende Dow Jones-Index heute noch zeitgemäß? Antwort: kaum.
  • Zweite Frage: Besteht überhaupt ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der Kursentwicklung und der Phase der Präsidentschaft? Antwort: fraglich.

Nehme ich die Einwände ernst, bleibt das Phänomen dennoch bestehen. Es lässt sich beschreiben:

  • Im Jahr der Wahl des US-Präsidenten steigen die Kurse ab Sommer kräftig an.
  • Der Anstieg setzt sich im Jahr nach der Wahl zunächst fort; in der zweiten Jahreshälfte kommt es zum Kursrückgang.
  • Im dritten Jahr - in ihm befinden wir uns aktuell - geht nichts mehr.
  • Im vierten, dem Vorwahljahr, dreht der Kurs wieder nach oben und zwar kräftig.

Akzeptiere ich gedankentestweise einen ursächlichen Zusammenhang zwischen Kurs und Zyklus, lässt sich sagen: Vor der Wahl versucht der Präsident und versucht seine Partei, die Wähler positiv zu stimmen. Schließlich sollen sie, die Wähler, den Präsidenten wiederwählen oder, falls er nicht erneut zur Wahl steht, zumindest die derzeit regierende Partei und ihren neuen Kandidaten wählen. Dafür werden Wahlgeschenke versprochen und Abgabensenkungen. Die Wähler sind hoffnungsfroh, sie geben Geld aus, Wirtschaft und Kurse ziehen an. Die Fed, die US-Zentralbank, ist zwar unabhängig, aber derart unabhängig auch nicht; Fed-Karrieren werden von Politikern an den Schalthebeln der Macht beeinflusst. Daher stellt sich die Fed den teuren Wünschen der Regierung im Vorwahljahr womöglich weniger entgegen, als sie es aus wirtschaftsvernünftigen Gründen eigentlich sollte. All das hilft den Aktienkursen. — Nach der Wahl sind die Versprechungen vergessen und nötige staats- und wirtschaftspolitische Grausamkeiten begeht man als Wahlgewinner in demokratischen System am besten schnell nach der eigenen Installierung; es bleibt genügend Zeit, um sich bis zur nächsten Wahl wieder als Wohltäter darstellen zu können, die Wähler vergessen schnell.

Von daher geschieht es, dass die Kurse in den Zwischenwahljahren nicht voran kommen. Aktuell interessiert natürlich besonders das „Midterm”-Jahr, in welchem wir uns befinden. Hier ist die Vergrößerung desselben:

Palo Alto Networks: Kurs dauerhaft über der 50-Wochen-Linie.

Ab Mitte April, deutlich sichtbar in der Vergrößerung, geht es im Durchschnitt seit über 100 Jahren bergab mit den Kursen. So auch dieses Mal … Die aktuellen Gründe für den kräftigen Kursverfall an der Wallstreet am Donnerstag (21.4.2022) sind Bedenken über sinkende Unternehmensgewinne und Ängste ob der kräftigen Zinserhöhungen, die Fed-Chef Jerome Powell mehrmals in den letzten Tagen ankündigte. Freitag bauten Dow Jones und andere Indices die Verlustnotierungen noch aus, so dass der Dow den Tag vor dem Wochenende mit den größten Kursverlusten schloss seit 2020, da die Pandemie-Panik die Börsianer von Aktien trennte, die sie kurze Zeit später teuer zurückkaufen mussten.

Das ist die Lage und über das Wochenende lecken gerupfte Aktionäre nun ihre Wunden. Ein Szenario, wie es weitergehen kann, bebildert der obige Chart mit seiner Weisheit des 120-Jährigen.

Es ist ein trübes Szenario. Es geht weiter bergab, bis in den Juni hinein, noch tiefer hinab im September …

Dort geben die Anleger entnervt auf, schmeißen ihre Papiere auf den Markt und es folgt - natürlich - der glorreiche Wiederaufstieg, zunächst ohne die Gerade-zuletzt-noch-Verkäufer, die froh sind, draußen zu sein; bald schon werden sie den Kursen hinterherschauen: Sollte ich zurückkaufen, habe ich falsch gelegen, tatsächlich wieder am Tiefpunkt verkauft und hätte ich besser mit meinem ausgeglühten Depot den Sommer überwintert?

Das ist wie gesagt die Weisheit des 120-jährigen Kalenders. Ob man sich auf so einen alten Knacker verlassen sollte bei seinen zentralen Finanzentscheidungen? Das ist die Preisfrage. Ich mache es so: Ich nehme die Saisonalität zur Kenntnis, sie ist spannend und wissenswert. Sie kann mir als Folie dienen für weitere Entscheidungen. Insbesondere wenn sie sich in ein Gesamtbild einfügt. Die Fed ist der stärkste Spieler im Markt, die Europäische Zentralbank kommt zunehmend in Zugzwang, die Logistikketten sind weiterhin teilweise gerissen, Chinas rustikales Covid-Management in Shanghai belasten Weltwirtschaft und die Psyche von Entscheidern. Die Aussichten nach oben sind begrenzt.

Nach unten reicht der Blick weiter. Aber der glatte Weg hinab ist keineswegs vorgezeichnet. Jederzeit kann der mächtigste Mann der Geldwelt einen Joker spielen, eine verbale Intervention, wenn er den Eindruck bekommt, Panik kröche in den Markt. Sachteste Andeutungen* seinerseits ließen die Kursen hochschießen wie den Korken einer gut geschüttelten Champagnerflasche. Und wieder wäre man als Anleger, der dieses Mal alles voraussehen wollte, auf dem falschen Fuß erwischt worden. — Die Börse ist ein Fortsetzungsroman, ein guter.

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* „Vielleicht, datenabhängig, könnte … Aufschub”, „Die Arbeitsmarktlage … Entspannung …”, „Der Inflationsindex … schwächt sich …”