Aktien Blog 2022Ansichten eines Aktienanlegers

Lage & Szenarien vom 20.3.2022

Flugreise oder Atomschlag

Von Frank Sauerland

Die Null oder die Eins. 0 oder 1. Wir leben in digitalen Zeiten. Aber anders als gedacht. — Wir erfreuen uns an Netflix-Streams und dem neuen iPhone, wir wollen die Verwaltung digitalisieren. Die eigentliche digitale Entscheidung jedoch für unsere westliche Wohlstandswelt wird aktuell in Moskau und in Washington getroffen. Wenige Männer in fortgeschrittenem Alter und mit durchschnittlicher Intelligenz entscheiden dort darüber, ob wir uns weiterhin über die nächste Urlaubsflugreise, ihren Verkaufspreis oder ihren CO2-Abdruck Gedanken machen dürfen, oder ob wir in einem Atomkrieg versinken und danach nichts mehr ist wie zuvor.

Was mit dem gerade niedergeschriebenen Absatz als sonntäglicher Erschreckbesinnungsaufsatz zu beginnen scheint, ist in Wirklichkeit eine wichtige, ziemlich konkrete Überlegung für eigene Aktieninvestitionen.

Zunächst: Der Atomkrieg ist aktuell so wahrscheinlich geworden wie zuletzt während der Kubakrise 1962. Dennoch: Die neue Lage, die kaum jemand noch vor einem Monat für möglich gehalten hätte, darf mich als Anleger, der nach rationalen Kriterien entscheidet, nicht auf angstbeschilderte Abwege führen, an deren Ende falsche Anlageentscheidungen stehen.

Im Falle eines Atomschlags hätten sich Gedanken um Investitionen und Depots erledigt. Die Welt wäre eine andere nach einem atomaren Schlagabtausch. Eine Börse, wie wir sie kennen, gäbe es nicht länger. Ich habe dieses Szenario als aktuell wieder denkbar, aber als börsentechnisch gesehen unhandelbar beiseite zu stellen. Auch das ist eine digitale Entscheidung.

Als Investor habe ich davon auszugehen, dass das Leben weitergeht, ohne dass die Katastrophe stattgefunden hat — und sofort rückt das andere Extrem ins Blickfeld, wenn ich den Atomkrieg als in die Handelswelt der Börse nicht einbeziehbar begreife. Das andere Extrem ist die Flugreise.

Die Flugreise ist Inbegriff des luxuriösen, westlichen Lebensstils, den unsere Väter und Vorväter erarbeitet haben, unsere Mütter und Großmütter, und den wir als gegeben betrachtet haben und nun, nach überstandener Pandemie und auch oder gerade im Angesicht eines nicht mehr für möglich gehaltenen erneuten Krieges in Europa umso mehr erleben wollen; womöglich mit weniger schlechtem Gewissen wegen der damit verbundenen Umweltverschmutzung und mit weniger „Geiz ist geil”-Mentaliät als vor den Zeiten von Pandemie und Krieg. Das Motto des Augenblicks könnte sein: Koste es, was es wolle, ich will wieder leben. Der Statista-Datenjournalist Matthias Janson schreibt zum Wochenende:

Kiew: Kämpfe, Aktien, Döpfner

„Der weltweite Flugverkehr steuert zunehmend auf Vorkrisenniveau zu. In Westeuropa liegt die geplante Sitzplatzkapazität der Fluggesellschaften noch 28 Prozent unter dem Niveau der Vergleichswoche aus dem Jahr 2019. Ähnliches gilt für die Region Nordostasien. In Nordamerika hingegen hat sich die Situation schon stärker stabilisiert. Aufgrund der Corona-Pandemie und den damit verbundenen Grenzschließungen sowie Reisebeschränkungen kam der Passagierflugverkehr in vielen Ländern fast zum Erliegen. Auch die Auswirkungen auf die weltweiten Flughäfen sind enorm. Sie mussten Umsatzverluste in dreistelliger Milliardenhöhe verbuchen. Der europäische Flugzeughersteller Airbus reduzierte seine Produktion um rund ein Drittel.”

Für den Aktienanleger liest sich das wie eine Investitionsanleitung, und der konkrete Name eines Herstellers wird netterweise gleich dazu genannt. Die anderen börsennotierten Flugzeugfabrikateure sind die üblichen Verdächtigen und schnell gefunden: Sie profitieren als Teilzeitrüstungshersteller zusätzlich von einer makaberen Sondernachfrage, welche mit dem gerade geschilderten neuen digitalen Problem zu tun hat. Weitere Investitionskandidaten aus dem Bereich der „Ich will wieder leben”-Bewegung sind Flughafenbetreiber, Reise- und Kreuzfahrtkonzerne, die an Börsen gelistet sind, und ich werde mir die Kurscharts entsprechender Unternehmen anschauen, um zu Einzelfallentscheidungen zu gelangen, aber die Schilderung des Prozesses würde den Rahmen überschreiten, den ein Sonntagsnewsletter hat, der einigermaßen angenehm und mit überschaubaren Zeiteinsatz lesbar bleiben soll. Hier kann es nur darum gehen, auf generelle Chance auch in Zeiten des Krieges hinzuweisen.

Je größer die Chancen, desto größer sind auch die Risiken. Das muss so sein, Gewinn kann nur entstehen, wenn die Gegenseite eine andere Einschätzung hat, und sie infolgedessen bereit ist, mir ihre Firmenanteile für einen geringen Preis zu überlassen. Zumindest nehme ich an, dass es ein geringer Preis ist, da ich steigende Kurse erwarte. Dagegen glaubt die andere Seite, die Kurse werden fallen, und sie habe mir gerade einen faulen Apfel angedreht, denn nun gehe es bald bergab, aus drei Gründen:

  • Weltweit ist die Inflation wegen der Notenbankpolitiken hoch. Sie steigt angesichts des Krieges in der Ukraine weiter. In den USA kann sie 10 Prozent in diesem Jahr erreichen. Die amerikanische Fed setzt deswegen gerade die Zinsen herauf, das wird Wirtschaft und Börsenkurse belasten.
  • Russland und die Ukraine fallen als Getreidelieferanten in diesem, mit Wahrscheinlichkeit auch im nächsten Jahr zu großen Teilen aus, aufgrund von Kriegseinwirkungen und Sanktionen. Das treibt Preise und saugt Kaufkraft auf, die an anderer Stelle in der Wirtschaft fehlt.
  • Corona kehrt zurück nach China, Städte werden abgeriegelt und Produktionsorte für Hochtechnologie zeitweise stillgelegt, was die weltweiten Lieferknappheiten und -unsicherheiten weiter verstärkt.

Die Wahrscheinlichkeit für eine Rezession ist heute höher als vor einem Monat. Zugleich, siehe oben, wollen die Menschen nach zwei Jahren Pandemie und Angstleben ihren Alltag zurückhaben. Sie wollen konsumieren und reisen. Sie haben Geld: In den USA wurde es in Form von Schecks verteilt, in Deutschland über ein ausgefuchstes Antragswesen. Ausgegeben werden konnte das Geld nur mit Mühe, da Veranstaltungsorte und Urlaubsmöglichkeiten großteils geschlossen waren. Nun werden die Einschränkungen zurückgenommen, und die Buchungszahlen steigen. Dazu boomt der Bau- und Immobiliensektor. Konsumenten zeigen sich bisher unempfindlich gegenüber Preissteigerungen.

Das alles ist kein Rezessionsverhalten, es ist ein Aufbruchsverhalten.

In einer solchen Lage identifiziere ich als Investor die aussichtsreichen Sektoren - das habe ich oben gemacht - und investiere. Liege ich mit meinem Szenario falsch, dann merke ich es bald und sage mir klar und deutlich: Ich liege falsch.

Das ist der entscheidende Punkt. Ich sage nicht: Ich liege aber richtig, ich habe doch so viel rumüberlegt, und der Markt wird es schon noch erkennen, dass ich recht habe. — Dann würde es für mich teuer.

Liege ich falsch, dann baue ich gerade eingenommene Positionen ab. Ich habe mir sogar den Luxus erarbeitet, dass ich mir im Nachhinein erklären kann, was der Grund dafür ist, dass ich falsch gelegen habe: Der Markt schätzt die Rezessionsgefahr höher ein, als ich es heute tue.

Liege ich richtig, dann habe ich das Jonglieren mit den unendlich vielen möglichen Faktoren, die auf Kurse und das menschliche Verhalten Einfluss nehmen, dieses eine Mal beherrscht. Ich werde mir nicht einbilden, ich hätte den Markt „geknackt” oder „endgültig verstanden”.

Das habe ich nicht. — Nur ein Einfluss könnte den Markt endgültig knacken, der Atomschlag. Er wird in einer vernunftgesteuerten Anlegerüberlegung außen vor bleiben. Weil es nach ihm keinen Markt nach bisheriger Art mehr gäbe. Vor der Großkatastrophe gäbe es kein Entkommen, keine Sicherheit für Depots und danach keine Verwendung für sie.

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