
Lage & Szenarien vom 27.2.2022
Kiew, Kurse und Kanonen
Von Frank Sauerland
Karten können Kurse erklären. Sie können sogar mehr, sie zeichnen Zukunftswege.
Die Fakten. Am Freitag legten die Börsen in Amerika, Asien, Europa eine Kursrallye hin. Der S+P 500, ein Leitindex in den USA, stieg um 2,2 Prozent, der Dow Jones stieg um 2,5 Prozent. Es war der beste Börsentag des Jahres. Eigentlich wäre das ein Grund zur Freude. Doch die kommt nicht auf. Denn in der Ukraine ist Krieg. Menschen sterben — und die Kurse steigen.
Die Lage. Käufer und Verkäufer haben Erwartungen gehabt, und sie haben Ängste gehabt, nachdem Putin den Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine befahl. Nun hat der Einmarsch begonnen, und die Erwartungen werden mit der Realität abgeglichen. An Börsen entstehen Firmen- und Rohstoffbewertungen. Als Anzeiger für die Bewertungen dient Geld. Einerseits ist Geld ein guter, harter Anzeiger, da in Geld Arbeitskraft aufgespeichert ist; andererseits ist Geld ein beschränkter Anzeiger, da an Börsen gegen ausgehandelte Geldpreise nur Unternehmensteile und Rohstoffe den Besitzer wechseln. Mehr leisten Börsen nicht, sie helfen nicht auf Feldern der Moral und der Gerechtigkeit.
Die Erklärung. Die Karte oben zeigt die Stadt Kiew und Umgebung. Dort wird gekämpft, gelitten, gestorben. Letzten Sonntag zeigte ich die Karte vom Kreml und von Moskau. Dort sitzt Präsident Putin, Denker des Krieges. „Das Geschehen hat historische Dimensionen”, sagt der Vorstandsvorsitzende der Axel Springer SE, Mathias Döpfner. Obwohl es um Krieg geht, obwohl die Situation eine historische Dimension hat, überlege ich heute, ob ich meinen Text ein zweites Mal mit einer Karte illustrieren kann. Zwei Sonntage hintereinander eine Karte zu benutzen, das erscheint mir als ziemlich gleichförmig, es fehlt die Abwechslung. — Meine Bedenken sind interessant, auch für den Aktienmarkt; zwei nebensächliche Kartenillustration und Überlegungen dazu zeichnen Zukunftswege: Selbst angesichts historischer Dimension gewöhnen wir uns, wollen Abwechslung. Ständig suchen wir Neues. Veränderungen erkennen wir schnell, verarbeiten sie, nutzen sie. Auf die Art schützen wir uns vor Gefahr. Indem wir einen Tiger sofort erkennen, der aus dem Unterholz hervorbricht. Indem wir einen Krieg schnell einschätzen. Bei Gleichförmigkeit, Wiederholung sind wir bald gelangweilt. — Das ist nicht verwerflich. Es ist in uns angelegt, es sichert Überleben. Die Händler in New York, London, Frankfurt sind Menschen, ihre Gehirne gewöhnen sich an die Auseinandersetzungen in der Ukraine. Die Folgen der Invasion lassen sich (vermeintlich) besser abschätzen, die Angst entweicht aus dem Markt. Bestimmt werden Börsianer bald neue Gründe finden, um sich Sorgen zu machen. Wir alle suchen ständig nach der Veränderung, nach Anzeichen für kommende Gefahren. Im Moment aber ist da Erleichterung. Der Erdball stand so dicht vor einer atomaren Auseinandersetzung wie nicht mehr seit der Kuba-Krise von 1962. Nach solcher gefühlten Gefahr darf man einiges hintanstellen, worüber man sich normalerweise als Aktienanleger Sorgen machen würde: Inflation, Powells Zinspläne.
Das Szenario. Die Erleichterung trägt, sie ist ebenso groß wie der Schreck groß war, als die Atommacht Russland letzte Woche die Ukraine angriff und das russische Fernsehen Drohungen ausstrahlte, Russland könne amerikanische Städte in radioaktive Asche verwandeln. — Donnerstag markierten die Kurse im S+P 500 einen Tiefpunkt. Das letzte Mal standen sie so tief im Juni des letzten Jahres. Freitag kam die Wiederauferstehung aus oben genannten Gründen. Die Wahrscheinlichkeit ist da, dass sich die Erleichterung, die Erholung fortsetzt. Natürlich bleiben die Menschen wachsam, fahnden nach verdächtigen Veränderungen, die Börsen sind zur Zeit nachrichtengetrieben. Gibt Putin ein neues Kriegsziel aus, wendet seinen Blick auf die baltischen Staaten (NATO-Gebiet!), lässt sich den Atomkoffer auf seinen überlangen Tisch im Kreml legen — die Börsen würden heftig reagieren, sie setzten die Realität von gestern mit heutigen Befürchtungen und Erwartungen zum morgigen Tag in neue, tiefere Kurse um.
Die Geschichte. Sie bestätigt das Gewöhnungsmuster menschlichen Verhaltens. Der Dow Jones-Index fiel 1914 in den sechs Monaten nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs um 30 Prozent. 1918 endete der Krieg, er kostete Millionen Menschen das Leben. Aber der Dow stand bei Kriegsende 43 Prozent höher als am Anfang des Krieges. Zuerst war da Angst und ein Unvermögen, die wirtschaftlichen Folgen des Krieges einzuschätzen. Dann trat Gewöhnung ein und Kalkulierbarkeit. Das wurde in Kurse umgesetzt. - Es war übrigens eine vermeintliche Kalkulierbarkeit. Denn kaum war der Krieg beendet, begann die Spanische Grippe, forderte mehr Opfer als der Weltkrieg.
Das Börsenkriegsgewöhnungsmuster wiederholt sich während des Zweiten Weltkriegs. Solange Unsicherheit herrscht, fällt der Dow. Tritt Gewöhnung ein, sogar Kalkulierbarkeit, fangen sich die Kurse und beginnen zu steigen. Dabei entwickelt der Markt - also die Menschen, welche die Preise am Markt mit ihren Handlungen machen - eine erstaunliche Weisheit. Schaue ich mir den Dow-Kurs genau an, so erkenne ich den Tiefpunkt ziemlich exakt da im Jahr 1942, wo sich auch der Kriegsgeschehen zugunsten der Alliierten wendet. Zeitgenossen im Felde, in der Politik, im Arbeitsleben bemerkten davon zunächst nichts. Nur die Börse zeigte es schon an wie ein Seismograph. Historiker entschieden erst hinterher, nachdem sie Akten studiert hatten, wann der Krieg seine entscheidende Wendung genommen hatte, die Börse war in ihrem Urteil schneller und sie lag richtig.
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