
Lage & Szenarien vom 23.1.2022
Hochprozentig: Das Bowle-Rezept der Fed
Von Frank Sauerland
Manchmal braucht es Charts und Schlauheiten, um am Weltaktienmarkt die Gewinnernischen zu finden.
Manchmal sind Charts und Gedankenschmalz unnötig, da keine Gewinnernischen existieren und die Sprache des Marktes eindeutig ist. So ist es an diesem Wochenende.
Am Freitag fallen die Kurse der nordamerikanischen Börsen den vierten Tag in Folge. Wir erleben bei Aktien den schlechtesten Start ins Jahr seit 2016, festgemacht am US-Leitindex S+P 500. Technologie-Werte sind out, der Nasdaq Composite Index verliert mehr als zehn Prozent von seinem jüngsten Hoch.
Damit nicht genug. Die Inflation steigt. Die Warenlieferketten - Blutbahnen der Wirtschaft, Transporteure der Gewinne - sind weiterhin anfällig, brüchig oder unrepariert.
Jeder versteht die Botschaft einer solchen Lage. — Und was mache ich?
Das ist erstaunlich. Ich halte mir die Ohren zu. Das ist zumindest der Reflex, den ich verspüre. Ich will die Botschaft nicht hören. Schrei nicht so laut, Markt. Deine Botschaft betrifft mich nicht, denn ich habe ausgewählte, tolle Aktien. So spricht es tief in mir, und der Verstand obenauf hat Mühe, Reflex und Innenstimme zu übersteuern.
Dem Markt sind menschliche Reflexe und meine Innenstimme egal. Er zieht alles herunter. Auch die tollsten Aktien.
So erteilt der Markt Lektionen. Mit der Überzeugungskraft einer Dampfwalze. Sie plättet Gewinne, und wer nicht aufpasst, dem plättet sie auch noch eine Spur durchs Depot.
Schnell-Lerner kapieren solche Lektion sofort und wissen, wo die Lösung zu finden ist: Statt sich vor die Dampfwalze zu legen, klettern sie in deren Führungshäuschen und verschaffen sich Übersicht:
Am Dienstag und Mittwoch der jetzt beginnenden Woche tagt die Fed, das ist die mächtige Notenbank der USA. Das Zwei-Tagesmeeting wird mit einer Pressekonferenz enden, die zum Scharnier der Börsenwoche werden kann.
Seit dem Tiefpunkt der Kurse in der Covid-Panik des März’ 2020 hat die Fed alles richtig gemacht, die Geldschleusen geöffnet. Auch die US-Politik reagierte richtig, im Rückblick lässt sich das sagen, sie stattete auf verschiedenen Wegen die Konsumenten mit Zusatzbargeld aus. Mit frischen Geld in der Hand griffen die Amerikaner beherzt zu, bei Waren natürlich, aber auch bei Aktien, Kryptowährungen. Bald war Partystimmung an den Börsen; der Verstärker wurde von den Partygängern aufgerissen bis zum Anschlag.
Nun zieht die Fed dem Verstärker den Stecker, kündigte bereits an, das schöne neue Geld sozusagen wieder einzusammeln mittels Zinserhöhungen und dem Zurückführen des Taperings:
Die Fed gibt den Bullenmarkt, die Fed nimmt ihn. Oder wie der frühere Fed-Chef William McChesney Martin sagte: Die Zentralbanker sind die einzigen Erwachsenen im Raum, und sie haben „angeordnet, dass die Rum-Bowle zu entfernen ist, sobald die Party abhebt.” Der Mann sprach 1955 und das ist lange her und das ist gut, denn es zeigt, dass die Fed die Rezeptur seit damals nicht geändert hat. Weil sie erfolgversprechend ist: Nimm den Kids die Bowle weg, die Party läuft ab jetzt auch ohne sie weiter.
Nicht mehr so überdreht, aber damit auch ohne größere Unfälle. Genau das ist im Sinne der Zentralbanker und der Politiker an den Schalthebeln der Macht. An welchen sie gern bleiben wollen. Was am besten gelingt durch unfallfreies Börsenpartymanagement und zufriedene Konsumenten.
Letztere murren wegen der entstandenen Inflation. Erstere haben aktuell Angst um ihre Gewinne. — Die Inflation wird zurückgehen, denn die Fed-Banker beherrschen die ihnen zur Verfügung stehenden Instrumente. Konsumenten brauchen also nichts weiter tun. Anders die Aktionäre, sie werden sich auf die geänderte Lage einstellen wollen, sich in Teilen neu positionieren. Die Profis sind bereits dabei, die Kurse zeigen das. Technologie-Titel fliegen aus den Depots. Energie-, Finanz-, Konsumwerte sind in den ersten Wochen des Jahres angesagt. Bei den Depotumstellungen der großen Anleger geht es hektisch zu, sie sind unsicher, so sackte (wie oben geschildert) der Markt zuletzt in seiner Breite ab, was natürlich Chancen eröffnet bei zu Unrecht mit hinabgezogenen Werten.
Da ich die Zukunft nicht kenne, warte ich die Fed-Sitzung Mitte der Woche ab. Ein typischer Verlauf wäre: Nach der Fed-Pressekonferenz reagieren Börsenhektiker und computerisierte Handelssysteme zunächst in die eine Richtung. Die naheliegende Richtung, die sich nach Schnellstanalyse der Konferenzworte ergibt; innerhalb von Sekunden (!) und Minuten wird so etwas heutzutage in Kauf- und Verkaufsorders umgesetzt. Dann aber drehen sich Stimmung und Kurse mirakulös in die andere Richtung. Ich geb’ mir die Aufregung nicht, schlafe drüber und schau mir das am nächsten Tag an. Dann ist die Sicht klarer.
Immer am Sonntag vor der nächsten Handelswoche schreibe und verschicke ich die kleine Marktvorbereitung Lage & Szenarien → hier auf meinem privaten Emailverteiler eintragen und Lage & Szenarien am Sonntagmorgen im eigenen Email-Postfach haben.