
Lage & Szenarien vom 16.1.2022
Im Tal der Tränen
Von Frank Sauerland
Ich zeige schnell vier Charts, daraus entsteht für mich ein Bild des Marktes — ein anderes Bild, als man zunächst denken mag.
Der Invesco QQQ ETF bildet den NASDAQ 100 nach, mit ihm beginne ich, siehe Chartbild oben. Da er die großen US-Aktien enthält, die den breiten Markt und die Wahrnehmung der allgemeinen Marktstimmung entscheidend beeinflussen. Enthalten sind im Index die US-Big Player wie Apple, Microsoft, Amazon, Tesla, Google, Nvidia usw.
Seit April 2020 legte der NASDAQ 100, legten die großen Tech-Aktien eine fantastische Rallye hin, man konnte als Mainstream-Anleger nicht viel falsch machen. Nun treten Ermüdungserscheinungen auf; die letzten Tage und Wochen taten der Depotperformance richtig weh, wenn man in diesen Werten kräftig engagiert war.
Der Kurvenpfeil, den ich eingezeichnet habe, verdeutlicht die Schwächephase. Der Grund für die Kursschwäche wird von den meisten Marktbeobachtern in den erwarteten steigenden Zinsen gesehen sowie in Gewinnmitnahmen.

Abgebildet ist der iShares Russell 2000 ETF. In ihm sind 2000 mittelgroße US-Werte enthalten. Der ETF dient mir als Anzeiger von "Normal"-Wirtschaftsunternehmen, auf Deutschland übertragen (nur als Vorstellungsmodell) wären das wohl größere, vielleicht gerade so börsennotierte Mittelstandsunternehmen, wobei in den USA im Verhältnis eben alles noch größer ist. — Der Chart zeigt mir: Da läuft nicht viel, seit Februar letzten Jahres kein Kursgewinn und das trotz all des frisch in Umlauf gebrachten Notenbankgeldes, trotz all der Geldspritzen, welche die Konsumenten vom Staat bekommen haben. Erstaunlich. Bitter für Anleger, die hier engagiert waren — und ein Ende der Misere scheint nicht absehbar, die letzten Kerzen zeigen erneute Schwäche.
Übrigens: Alle Charts sind auf Wochensicht gestellt, das heißt jede Kerze repräsentiert eine Handelswoche. Die Charts verdeutlichen damit länger laufende Trends.

Der Alpha Architect Quantitative Momentum ETF ist ein Marktanzeiger, den ich besonders mag. Mit ihm kann man den Wallstreetiers der Klasse "extrasmart" über die Schulter schauen — und was sieht man … die kochen auch nur mit Wasser. Der Momentum-Ansatz, das offensive Mitreiten von gehypten Aktienwerten brachte wenig oder auch nichts in den vergangenen Monaten.
In der Gesamtschau: Abseits der großen, bekannten Aktien lief wenig und die großen bekannten Namen schwächeln nun auch seit Beginn des Jahres. Wir sind im Tal der Tränen. Dazu passt der Seasonax-Chart:

Wir befinden uns in dem dritten Segment, das mit Midterm beschrieben ist, der rote Pfeil markiert es (die Pfeilspitze hat nichts zu sagen). Seasonax bildet in dem Chart einen Kursmittelwert des Dow Jones-Indexverlaufs seit 1900, es wird ein Vier-Jahresraster darüber gelegt und eine gedankliche Verbindung hergestellt zur US-Präsidentschaftswahl, die sich (im Normalfall) alle vier Jahre wiederholt. Der Seasonax-Chart legt nahe, dass das Midterm-Jahr, also das Jahr, in welchem die Zwischenwahlen in den USA stattfinden, ein verlorenes Jahr für Aktien ist, die Kurse steigen nicht an.
Lage. Nach Durchsicht der wenig ermutigenden Charts scheint alles zusammenzupassen. Aber das ist nicht so. Zumindest nicht für mich. Charts kennen die Zukunft nicht. Die ersten drei gezeigten Charts verheimlichen das auch nicht, sie brechen mit dem letzten stattgefundenen Handelstag (14.1.2022) ab. Der Seasonax-Chart scheint in die Zukunft zu blicken … Aber er bildet nur Durchschnitte, mit Werten, welche er aus der Vergangenheit holt. Und zwar mit Hilfe eines Index', von dem zwar weit zurückreichende Daten vorliegen, dessen konservativ betreute Zusammensetzung aber das heutige Wirtschaftsleben nur noch eingeschränkt spiegelt.
Szenario. Eine Mehrheit der Anleger erwartet Inflation und Reaktionen der Notenbanken darauf. Die Mehrheit dürfte ein baldiges Ende der Pandemie erwarten, aber noch Lieferengpässe befürchten aufgrund von Quarantänemaßnahmen, die wegen der ansteckenderen Omicron-Virusvariante ergriffen werden. Ist die Pandemie überstanden, werden die Menschen reisen wollen.
All das ist in den Kursen drin. Inflation ist drin, Omicron ist drin, das Pandemie-Ende ist drin. Kursbewegend sind Neuigkeiten, das Noch-nicht-Bedachte. Möglichkeiten wie Kalter-Krieg-reloaded, Biden als Lame-Duck nach den Zwischenwahlen. — Eine US-Regierung, welche den Handel handeln lässt, nicht weiter stört, da sie keine neuen, umwälzenden Gesetze durchbringen kann: Der Markt würde es lieben. Einen Konflikt der Großmächte um die Ukraine weniger, aber die Ukraine ist, vom Weltfinanzzentrum New York aus gesehen, weit weg und hat geringe Wirtschaftskraft. Solange ein solcher Konflikt begrenzt bliebe, dürfte er die Börsen kaum beeinflussen.
Einen Zwichenwahlenausgang, welcher Biden schwächt, halte ich, Stand heute, für wahrscheinlich, einen nachhaltig kursbewegenden USA-Russland-Konflikt für weniger wahrscheinlich. So kann ein zeitversetzter Seasonax-Chart heutiges Arbeitsszenario sein: Der Kursanstieg setzt nicht erst zum Jahreswechsel ein, sondern bereits im Herbst diesen Jahres. Die Pandemie hat ihren Schrecken verloren, die Inflation stellt sich im Jahresverlauf als nicht so stark heraus wie befürchtet, und die Politik stört nicht weiter. Wir stehen im Tal der Tränen, hinter uns ein Berg, vor uns ein Berg, wir verdrücken noch eine Träne, schnaufen durch — sodann beginnt der neue Anstieg.
Immer am Sonntag vor der nächsten Handelswoche schreibe und verschicke ich die kleine Marktvorbereitung Lage & Szenarien → hier auf meinem privaten Emailverteiler eintragen und Lage & Szenarien am Sonntagmorgen im eigenen Email-Postfach haben.